Benötigte Wagenburgmentalität
2. Mai 2007"Politische Stabilität" ist eigentlich seit Putins Amtsantritt als Präsident das Zauberwort seiner Herrschaft. Alle, die diesen Zustand in der russischen Politik hätten stören können - eigenwillige Gouverneure, unkontrollierbare Oligarchen oder auch Kritiker von Putins Politik - wurden in ihre Schranken gewiesen. Kritische Themen verschwanden aus den Fernsehmedien. Die Vermeldung politischer Erfolge und positiver Ergebnisse der Staatsführung erhielten Vorrang. Diskussionen über Staat und Gesellschaft endeten dort, wo sie zentrale Aspekte der Kreml-Politik in Frage stellten. Doch dieser April hat gezeigt, dass der Kreml mit der erreichten "politischen Stabilität" nicht mehr vollkommen zufrieden ist.
Vermeintliche Bedrohung
Angesichts der im Dezember bevorstehenden Parlamentswahl und die Machtübergabe von Präsident Putin an einen Nachfolger im Frühjahr 2008, benötigt der Kreml jetzt eine Wagenburgmentalität. Russland sei bedroht - so der Tenor des Kremls, und zwar von außen durch die USA und von innen durch die angeblichen Helfershelfer des Westens, den Putin-Gegnern Kasparow, Kassjanow und anderen angeblichen Pseudo-Demokraten, die ihren Auftrag aus dem Ausland erhielten.
Nur aus dieser Perspektive wird der überzogene Einsatz der Sicherheitskräfte gegen die wenigen Tausend Putin-Gegner Mitte April in Moskau und Sankt Petersburg verständlich. Nur aus dieser Bedrohungswahrnehmung versteht sich die heftige Reaktion Putins auf die US-Pläne einer Raketenabwehr in Polen und Tschechien. Denn die für das Jahr 2013 geplante Radaranlage und die weniger als ein Dutzend Abwehrraketen mögen russischen Militärs nicht gefallen. Eine reale Bedrohung oder gar Gefahr für die Atommacht Russland mit ihren Tausenden Atomraketen sind die US-Pläne gewiss nicht. Das müsste eigentlich auch Putin wissen. Erst recht sollten die US-Pläne für Moskau keinen Grund darstellen, Abrüstungsverträge auszusetzen, die den Ost-West-Konflikt in Europa beendet haben.
Autistische Gesellschaft
Eine so heftige Reaktion wie die Aussetzung des KSE-Vertrages muss seine Ursachen woanders haben, nämlich in der schwierigen innenpolitischen Frage, wie in der unter Putin entstandenen politischen Ordnung die Nachfolge organisiert wird. Denn das ist für die regierende politische Kaste in Russland die eigentliche Existenzfrage, hier geht es für alle Beteiligten um die politische Macht und den Zugriff auf die russischen Wirtschaftsressourcen.
Die Kreml-Elite will ohne jegliche Beteiligung durch die außerparlamentarische Opposition und ohne kritische Nachfragen des Westens die Nachfolgefrage unter sich ausmachen. Dazu müssen in den Augen der russischen Öffentlichkeit alle Putin-Kritiker und die kritische Außenwelt verunglimpft werden - als vermeintliche Aggressoren oder politische Extremisten. Eine autistische Gesellschaft, die sich durch die Außenwelt bedroht und verkannt fühlt, ist für alternative Sichtweisen nicht zu erreichen und leichter zu lenken.
Im Schatten dieser selbst erzeugten Wagenburgmentalität dürfte sich dann die Machtübergabe von Putin an seinen auserkorenen Nachfolger vollziehen. Und sollte sich die Kreml-Führung bis zum nächsten Frühjahr auf keinen passenden Nachfolgekandidaten geeinigt haben, so bietet das Einkreisungsgefühl der russischen Gesellschaft noch einen weiteren Vorteil: Innenpolitische Turbulenzen oder bewusst herbeigeführte Verschärfungen der außenpolitischen Beziehungen ermöglichten, dass Präsident Putin seine Äußerungen revidiert und - mit Hinweis auf den politischen Notstand - eine dritte Amtszeit als russischer Präsident antritt.
Ingo Mannteufel, Leiter der russischen Online-Redaktion der Deutschen Welle