Mehr Solidarität bitte!
Am Sonntag wird eine Tradition 126 Jahre alt, die in vielen Ländern der Welt verbreitet ist: Der erste Tag im Mai gehört den Arbeitern und den abhängig beschäftigten Menschen. Am 14. Juli 1889 beschloss ein Internationaler Arbeiterkongress in Paris, dass an einem bestimmten Tag die Arbeiter auf die Straße gehen sollten, um den Achtstundentag zu fordern. Und weil der amerikanische Arbeiterbund eine solche Kundgebung schon für den 1. Mai 1890 beschlossen hatte, blieb es bei diesem Datum.
Seitdem gilt der 1. Mai als Tag der Arbeiterbewegung - der freilich schnell seine Unschuld verlor: In Deutschland erklärten ausgerechnet die Nationalsozialisten den 1. Mai zum gesetzlichen Feiertag und nutzten ihn zu Massenaufmärschen und zu Propaganda in ihrem Sinne, während die Gewerkschafter in Gefängnissen und Konzentrationslagern verschwanden. Und auch die Staaten des ehemaligen Ostblocks hatten den Tag der Arbeit pervertiert: Er diente zu Aufmärschen mit Stechschritt, Panzern und Raketen, während die Gewerkschaften zu bloßen Anhängseln von Staat und Partei degenerierten.
Zeit für mehr Solidarität
Und heute? Zum 1. Mai 2016 hat der Deutsche Gewerkschaftsbund die Losung ausgegeben: "Zeit für mehr Solidarität!". Ein Motto, das in die Zeit passt. Denn Deutschland steht vor großen Aufgaben: Hunderttausende sind vor Krieg und Terror nach Europa geflüchtet, und die meisten Flüchtlinge wollen nach Deutschland. Doch hier treffen sie oft auf Hass und Menschenfeindlichkeit.
Dagegen wollen sich die deutschen Gewerkschaften wehren. Sie rufen dazu auf, für Integration in Arbeit und Gesellschaft auf die Straße zu gehen und für eine freie, offene, solidarische und demokratische Gesellschaft zu demonstrieren. "Geflüchtete und Einheimische dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden", heißt es im Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum 1. Mai. Auch deshalb lautet ihre Forderung: Keine Ausnahmen beim Mindestlohn, keine Absenkung von Arbeitsschutzstandards.
Unverdienter Bedeutungsverlust
Allerdings werden diese Forderungen von einer immer kleiner werdenden Basis von Mitgliedern vertreten. Den Gewerkschaften geht es wie den Kirchen und den Sportvereinen: Die Mitglieder laufen weg, der Nachwuchs fehlt und Frauen sind unterrepräsentiert. 1990, als sich der damalige ostdeutsche "Freie Deutsche Gewerkschaftsbund" (FDGB) auflöste und dem DGB anschloss, zählte der Dachverband der deutschen Gewerkschaften elf Millionen Mitglieder. 2001 waren es noch knapp 7,8 Millionen, im vergangenen Jahr nur noch 6,1 Millionen.
Frage: Kennen Sie den Namen des DGB-Vorsitzenden? Vermutlich nicht oder nicht auf Anhieb. Das war einmal ganz anders, und eigentlich ist es tragisch, dass Gewerkschaften im öffentlichen Bewusstsein immer mehr an Bedeutung verlieren. Denn sie haben in den vergangenen anderthalb Dekaden viel dazu beigetragen, dass Deutschland vom kranken Mann Europas zur Lokomotive für einen ganzen Kontinent geworden ist.
Kaum gewürdigt
Sie haben maßgeblich mitgeholfen, in den Krisenjahren den Anstieg der Arbeitslosigkeit im Zaum zu halten. Gewerkschafter haben für Kurzarbeit und Konjunkturprogramme gekämpft, jahrelang haben sie ihre Lohnforderungen zugunsten der Sicherung von Beschäftigung geopfert, Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung und Bündnisse für Arbeit geschlossen. Gewürdigt worden ist dieses Engagement der Gewerkschaften dagegen kaum.
Und heute? Die Solidarität der Gewerkschaften in den vergangenen Dekaden hat auch dazu beigetragen, dass Deutschland heute zu einem Magnet für Schutzsuchende geworden ist. Menschen fliehen vor Kriegen, Bürgerkriegen und vor politischer oder rassistischer Verfolgung. Deutschland hat deshalb eine Verantwortung bei der Aufnahme, Verantwortung für faire und zügige Verfahren zur Entscheidung über Asylanträge - und auch Verantwortung für die Integration von Geflüchteten.
"Zeit für mehr Solidarität!" ist deshalb ein passendes Motto zum 1. Mai. Die Gewerkschaften wollen sich diesen Herausforderungen der Flüchtlingspolitik stellen, sie fordern flächendeckende Angebote für Sprach- und Integrationskurse, Aus- und Weiterbildung, Unterstützung der Kommunen, die sich um eine Integration bemühen. Und sie legen wert auf die Feststellung: Für parteipolitische Auseinandersetzungen darf die Flüchtlingspolitik nicht missbraucht werden. Bleibt nur zu hoffen, dass dieses Engagement der Gewerkschaften ernster genommen und mehr gewürdigt wird als in den vergangenen Jahren. Verdient hätten sie es allemal.
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