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Politik

Der Mauerfall stoppte die Integration

Erkan Arikan Kommentarbild App
Erkan Arikan
10. November 2019

Rückblickend wissen wir: Es gab auch Verlierer der Deutschen Einheit. Viele Menschen in Ostdeutschland zählen dazu. Aber auch die bis dahin in der Bundesrepublik lebenden sogenannten Gastarbeiter, meint Erkan Arikan.

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Migranten Senioren Deutschland
Bild: imago/Caro

Donnerstag, 9. November 1989: Aus Gewohnheit schaute ich um kurz nach 19.30 Uhr die Berliner "Abendschau" im Fernsehen. Als der Moderator die unglaubliche Nachricht verlas, dass in diesen Minuten die Mauer gefallen sein könnte, überkam auch mich ein Gefühl der Freude und der Erleichterung. Als Gastarbeiterkind, das seine Kindheitsjahre nahe der Bernauer Straße im Berliner Stadtbezirk Wedding verbracht hat, bin ich mit der Mauer groß geworden. Die Geschichten, die mir Mitte der 1970er Jahre Nachbarn von ihren Familien erzählten, die auf der anderen Seite der Mauer leben mussten, haben sich in meine Erinnerungen gebrannt.

Und so war es geradezu selbstverständlich, dass ich am späten Abend des 9. November mit Freunden an den Ort meiner Kindheit, die Bernauer Straße, fuhr, um in diesem historischen Moment mit dabei zu sein. Die ganze Nacht jubelten wir den Menschen zu, die über die Grenze nach West-Berlin kamen. Dies waren wunderbare Momente, an die ich mich bis heute erinnere. Und jedes Mal habe ich dabei Tränen der Freude in den Augen.

Integration der Gastarbeiter ad acta gelegt

Ab Mitte der 1980er Jahre wurde in (West)-Deutschland viel für die Integration getan. Sprachkurse und Sportvereine waren Garanten für das Erlernen der deutschen Sprache und die Integration in die deutsche Gesellschaft. Ich möchte sogar behaupten, dass viele Kinder der Gastarbeiter, wie ich es bin, die Chance hatten, aus den Ausländervierteln der Ballungsgebiete wegzuziehen und - wie es immer gerne gesagt wird - Paradebeispiele gelungener Integration zu werden. Nicht zu verkennen ist aber auch, dass es auch viele mit Schweiß und Tränen geschafft haben, gerade in diesen bereits bestehenden Parallelgesellschaften erfolgreich zu werden. Unter den Gastarbeiterkindern gab es sogar einige, denen es gelang, bundespolitische Karrieren zu starten: bei den Sozialdemokraten die erste türkeistämmige Bundestagsabgeordnete Leyla Onur oder bei den Grünen Cem Özdemir.

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Erkan Arikan leitet die Türkische Redaktion der DWBild: DW/B. Scheid

Doch 1990 gab es nach meiner Wahrnehmung einen Bruch: Plötzlich konzentrierte sich ganz Deutschland nur noch auf die sogenannten Neuen Bundesländer. Die aus der Türkei stammenden Gastarbeiter, die sich damals auf der Skala der Integration ganz weit oben befanden, fielen mit dem Mauerfall plötzlich ab. Alles wurde dafür getan, damit die vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen "blühenden Landschaften" Wirklichkeit werden konnten. Der Solidarzuschlag, um den Osten voranzubringen, wurde eingeführt. Auch wir "Ausländer" bezahlen den bis heute. Und nicht nur das: Gastarbeiter jeglicher Herkunft waren auch maßgeblich daran beteiligt, dass Deutschland wirtschaftlich zu der Großmacht geworden ist, die es heute ist. Aber was geschah dann? Wie ging man mit den Gastarbeitern um? Von heute auf morgen wurden sie zu "Migranten" erklärt, die selber schauen sollten, dass aus ihnen etwas wird. Hinsichtlich der Integration wurde das einstige Fördern auf ein reines Fordern reduziert.

Immer wieder heißt es, dass sich viele im Osten, aber auch im Westen abgehängt fühlten. Wohl wahr: Viele haben sich durch die Deutsche Einheit eine für sie persönlich bessere Zeiten erhofft und sind enttäuscht worden. Im Osten wie im Westen gibt es Menschen, die auf der Strecke geblieben sind. Dazu zählen aber auch zahlreiche Migranten, die man im Zuge des Einigungsprozesses alleine gelassen hat. Die Integration der Gastarbeiter wurde, so mein Eindruck, ad acta gelegt. Die Stimmen der Wähler im Osten, denen es besser gehen sollte, waren plötzlich wichtiger als die Eingliederung der Menschen mit ausländischen Wurzeln in die nun gesamtdeutsche Gesellschaft. 

Minister arabischer Herkunft? Intendanten mit türkischen Wurzeln?

Es ist schon häufig philosophiert worden, was mit den ehemaligen Gastarbeitern und heutigen Migranten geschehen wäre, wenn die Mauer nicht gefallen wäre. Kann ich mir das heute überhaupt vorstellen? Will ich mir das überhaupt vorstellen? Ja, auch darüber darf man sich Gedanken machen. Wenn die Integration der Menschen mit ausländischer Herkunft so weitergegangen wäre wie bis Ende der 1980er Jahre, hätten wir heute womöglich eine ähnlich Situation wie in Holland, Belgien oder Frankreich.

Dort wurde früh erkannt, dass Gastarbeiter keine Gäste mehr waren, sondern ankommen wollten und sollten. Ankommen und Teil der Mehrheitsgesellschaft werden. Vielleicht hätten wir dann in Deutschland Bundesminister mit den Namen Öztürk, al-Omari oder Kovac. Wir hätten Aufsichtsräte in DAX-Unternehmen, die nicht aus Österreich oder der Schweiz kämen, sondern welche mit iranischen, syrischen oder türkischen Wurzeln. Vielleicht hätten wir sogar einen Intendanten eines öffentlich-rechtlichen Senders aus den Maghreb-Staaten. Oder einen aus der Türkei stammenden Bundeskanzler, der nach 50 oder 60 Jahren der Teilung die Einheit Deutschlands angestrebt hätte. Alles Spekulation. Wir werden es nie wissen. Doch was wir wissen ist, dass die gefühlte Einstellung aller Integrationsbemühungen der Bundesregierungen nach 1990 nie hätte passieren dürfen.