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Kommentar: Ratloses Bündnis

Christian F. Trippe, z.Zt. Newport5. September 2014

Die NATO zieht eine rote Linie für Russland. Auf seinem Gipfel in Wales wählt das Militärbündnis gegenüber Moskau eine Sprache der Entschlossenheit. Doch dahinter verbirgt sich Ratlosigkeit, meint Christian F. Trippe.

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NATO Gipfel 04.09.2014 (Foto: Reuters)
Bild: Reuters/Rebecca Naden

Selten zuvor gab sich ein NATO-Gipfel derart militärisch. Auf dem Tagungsgelände waren Panzer aufgefahren, die maßstabsgetreue Attrappe eines Kampfflugzeugs zierte als martialischer Blickfang den Eingang zum Tagungshotel. Die Staffage, Ausdruck des unbekümmerten Umgangs der Briten mit allem Militärischen, offenbarte gleichwohl mehr: Die NATO kehrt zu ihrer Kernaufgabe als Verteidigungsbündnis zurück.

Das geschieht auf äußeren Druck hin, fast schon mit einer gewissen Zwangsläufigkeit. Und für so manches NATO-Mitglied kommen nun unweigerlich die alten Begriffe zurück: Abschreckung und Eindämmung, die Sprache des kalten Krieges. Aber was soll eine Militärallianz auch anderes sagen, wenn im Osten Europas der neue alte Gegner militärische Machtpolitik betreibt und Grenzen mit Gewalt verändert?

Die NATO reagiert darauf mit einem Bereitschaftsplan, der vor allem die östlichen Mitgliedsländer beruhigen soll. Denn die sogenannte Putin-Doktrin lässt in Tallinn und Riga alle Alarmglocken schrillen. Russland nimmt sich das Recht, zum Schutz russischsprachiger Minderheiten zu intervenieren. Auf der Krim hat Putin vorgeführt, wie so etwas geht - und womit es endet. In Estland und in Lettland leben große russische Minderheiten und ein Grund für ihren "Schutz" lässt sich in Moskau wohl immer konstruieren.

Christian Trippe, DW-Sonderkorrespondent (Foto: DW)
Christian F. Trippe, DW-SonderkorrespondentBild: DW

Doch die schnelle Eingreiftruppe löst die Sicherheitsprobleme im Osten nicht. Sie kann höchstens Schutz vor "grünen Männchen" bieten, also den vor irregulären Kräften ohne Hoheitsabzeichen, die ein Gebiet infiltrieren. Die Militärs bei der NATO wissen nur zu gut, dass das Baltikum in einem konventionell geführten Krieg militärisch nicht zu verteidigen ist. Also braucht das Bündnis eine runderneuerte Strategie.

Das gegenwärtige militärstrategische Kalkül der Allianz beruht auf einer simplen Prämisse: Dass der russische Präsident die rote Linie rund um das Bündnisgebiet respektiert. Anders gesagt: Dass die Führung in Moskau sich vom gegenseitigen Beistandsversprechen und der Bündnispflicht in Artikel 5 des NATO-Vertrages beeindrucken lässt.

Was aber, wenn Putin sich entscheidet - sei es mit einer "unorthodoxen" Intervention, sei es mit einer Luftlandeoperation - im Baltikum Artikel 5 zu "testen". Sterben für Tallinn? Nukleare Vergeltung üben für Riga? Diese Fragen sind nicht akademisch und sie bleiben auch nicht auf pazifistische Gruppen beschränkt. Diese Fragen werden in der NATO gestellt. Die nun beschlossene Eingreiftruppe beantwortet sie nicht.

Und die Ukraine? Mit lautstarken Beteuerungen, Solidaritätsbekundungen und symbolischen Hilfszusagen für Kiew hat der NATO-Gipfel nicht gegeizt. Und doch bleibt das Land im Konflikt mit Russland sich selbst überlassen. Echten Beistand kann das Bündnis nicht bieten. Die Ukraine liegt jenseits der roten Linie. Das hat Putin ganz sicher verstanden.