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Politik

Steinewerfer zählen reicht nicht

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Catherine Martens
23. März 2019

Die "Gelbwesten" haben wieder demonstriert. Längst sind ihre Forderungen in den Hintergrund gerückt, vielmehr wird über Gewaltexzesse gesprochen. Dabei wäre eine ganz andere Debatte nötig, meint Catherine Martens.

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Frankreich, Gelbwesten protestieren vor Sacré Cœur
Bild: Getty Images/G. v. d. Hassel

Diesmal war es ruhig. Letztes Mal war es wild. Dieses Mal war mehr Militär. Letztes Mal weniger. Wer so die politische Lage Frankreichs analysiert, bleibt stecken und geht am Kern des Phänomens rund um die "Gelbwesten" vorbei. Auch wenn es schockiert: Das Militär im Inneren einzusetzen, ist in Frankreich nichts Ungewöhnliches. Der französische Staat erlaubt in seiner Verfassung ausdrücklich die gemeinsame Intervention von Militär und Polizei, um das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen.

Diesen Verfassungszustand kann man billigen oder kritisieren - aber das jeden Samstag mal hochkochende, mal zurückschnurrende Kräfteverhältnis zwischen Demonstranten und Staatsmacht ist nicht Quell des Übels. Es ist allenfalls Ausdruck desgleichen. Es verdient, in Frage gestellt zu werden, aber hier verdeckt es den Blick aufs Wesentliche. Derzeit versteift sich die politisch geführte Debatte fälschlicherweise auf das Wie (wird demonstriert). Und lässt das Warum der Rebellion nach mehr als vier Monaten heftigster Aufstände unbeantwortet.

Zurück in die Geschichte

Die Konfrontation läuft entlang einer Linie. Einer, die sich seit der Dritten Republik (1871-1940) in Frankreich regelmäßig wiederholt: der Aufstand der Unterprivilegierten gegen bürgerliche Eliten! Sozialrevolutionäre Kräfte gegen politische Klasse! Peripherie gegen Zentralregierung! Drei Ausrufezeichen, die jedem französischen Kabinettsmitglied in die Augen springen sollten beim Blick auf die aktuelle Krise. Hallo Elysée?! Ist da wer? Die Pariser Kommune - jener revolutionäre Pariser Stadtrat, der im März 1871 gegen den Willen der konservativen Zentralregierung versuchte, Paris nach sozialistischen Vorstellungen zu verwalten? Nationales Trauma?

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DW-Korrespondentin Catherine Martens

Schon mal nachgedacht, warum die "Gelbwesten" Richtung Sacré Coeur marschieren, an diesem Samstag? Keine andere Demo in Paris marschiert dorthin. Sacré Coeur - die Bußkirche  für Huren, Diebe und Kommunisten? Ja, genau. Die Basilika, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs als Sühne und als Gutmachung gegenüber der Pariser Kommune errichtet wurde.  Ja, es geht um Symbole. Oder um Zaunpfähle, das liegt im Auge des politischen Betrachters. Die Pariser Kommune - schließlich blutig niedergeschossen von Truppen des Bürgertums - hatte auf dem Hügel der heutigen Basilika ihren Ursprung. 

Keinen anderen Ort haben sich die "Gelbwesten" diesmal ausgesucht. Noch deutlicher können sie nicht zeigen, was den Grund der Rebellion ausmacht. Der gesellschaftliche Hass zwischen Proletariat/Abgehängten und Elite. In Frankreich kein verstaubtes Vokabular aus Geschichtsbüchern.

Paris gegen den Rest der Grand Nation

Anders als Deutschland ist Frankreich noch heute ein streng zentral regiertes Land. Noch heute führt für den, der etwas werden will, der Weg über die Hauptstadt. Der Rest des Landes wird Provinz geschimpft. Egal ob Nord, Süd, West, Ost. Provinz eben. Nicht so Paris, einzig wahrer Ort der französischen Hochkultur. Dieses seit jeher angespannte Verhältnis strapaziert die Reizfigur Präsident Emmanuel Macron. Franzosen, die sich landauf, landab schon längst gesellschaftlich abgehängt und degradiert fühlen, machen den Ex-Bankier von Rothschild zum gemeinsam gehassten, elitären Sündenbock.

Die "Gelbwesten"-Bewegung ist deshalb spannend, weil sie die (ur!-) alten Risse der französischen Gesellschaft in der Fünften Republik freilegt. Ich habe nicht einen Funken Sympathie für die Schläger und Mitläufer der Bewegung. Auch nicht für die Immer-Jammerer, denen der üppige französische Wohlfahrtsstaat nicht üppig genug ist. Nicht eine Sekunde. Trotzdem lohnt es sich für die Regierung, hinzuschauen. 

Föderalismus gegen das Unwohlsein

Die Gelbwesten fordern nicht, wie einst die Pariser Kommune, die Diktatur des Proletariats. Es wäre eine politische Absurdität. Aber sie fordern letztlich eine legitime Angleichung zwischen Zentrum und Peripherie. Derzeit sind aber die Chancen groß, dass sie als opportunistische Wutbürger in Erinnerung bleiben. Das wäre ein Jammer. Denn die Reformen sind nötig.

Es geht weniger um Benzin, um Kaufkraft oder um Arbeitslosengeld. Sondern im Kern um das gesellschaftliche Unwohlsein in Frankreich, als Provinzler verachtet zu werden. Mit allen infrastrukturellen Nachteilen, die dies mit sich bringt. Nur wenn die Regierung Macrons den Mut zu einer ehrlichen Föderalismusdebatte hat, und damit die Weichen legt für ein föderales Frankreich - dann könnte der gesellschaftliche Konflikt langfristig befriedet werden. Und dann, nur dann wären die "Gelbwesten" in den Geschichtsbüchern nicht ein Haufen Krawalldeppen, sondern nötige Wegweiser gewesen. In eine föderale Sechste Republik.