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Türkisch-europäisches Pokerspiel

13. Mai 2016

Nach außen sieht es nach einem bevorstehenden Scheitern des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei aus. Doch beide Seiten können sich das nicht leisten, glaubt DW-Redakteur Christoph Hasselbach.

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Das Bild "Die Kartenspieler" von Paul Cézanne (Foto: picture-alliance/akg-images )
Das Gemälde "Die Kartenspieler" des französischen Malers Paul CézanneBild: picture-alliance/akg-images

Keiner will nachgeben. Der türkische Präsident Erdogan lehnt eine Änderung der umstrittenen Anti-Terror-Gesetze seines Landes ab. Bleibt er dabei, will die Europäische Union dem Land die für den Sommer zugesagte Visa-Liberalisierung verweigern. Die Reisefreiheit ist eines der großen Ziele der Türkei, gerade Erdogan hat lange dafür gekämpft. Ginge es allein darum, könnten sich die Europäer gemütlich zurücklehnen und die Türkei zappeln lassen, bis alle Bedingungen bis aufs i-Tüpfelchen erfüllt wären.

Doch die Visabefreiung ist Teil des Flüchtlingsabkommens, das noch der inzwischen zum Rücktritt gezwungene Ministerpräsident Davutoglu mit der EU ausgehandelt hatte. Und Ankara scheint erneut bereit, den Hebel "Flüchtlinge" in zynischer Weise einzusetzen. "Sollten Sie eine falsche Entscheidung treffen", ließ ein Erdogan-Berater die Abgeordneten des Europaparlaments auf Twitter wissen, "schicken wir die Flüchtlinge".

Erdogan braucht die Reisefreiheit

Wir lassen uns nicht erpressen, heißt es jetzt von der Brüsseler Kommission und vom Europaparlament in Straßburg. Und ausnahmsweise ist man sich dabei parteiübergreifend weitgehend einig. Kommissionspräsident Juncker zum Beispiel gab sich am Donnerstag eindeutig: "Wir legen größten Wert darauf, dass die Bedingungen erfüllt sind. Sonst wird das nicht stattfinden." Es ist derselbe Juncker, der Ende Oktober gemahnt hatte, es sei nicht die Zeit, die türkische Regierung auf Menschenrechtsverstöße hinzuweisen, "ob uns das gefällt oder nicht".

Christoph Hasselbach (Foto: DW/M.Müller)
DW-Redakteur Christoph HasselbachBild: DW/M.Müller

Damals wie heute sind die Europäer in der Flüchtlingsfrage von der Türkei abhängig. Bisher hat sich Ankara an seinen Teil der Vereinbarung gehalten. Sollte Erdogan tatsächlich das Abkommen aufkündigen und "die Flüchtlinge schicken", stünde die EU wieder da, wo sie bis Anfang des Jahres stand: vor einem riesigen ungelösten Problem.

Doch Erdogan ist umgekehrt auch von den Europäern abhängig. Er braucht sie nicht nur wirtschaftlich, politisch und diplomatisch. Viel direkter wirkt innenpolitisch die Aussicht auf die Visabefreiung: Kann er sie dem türkischen Volk im Sommer nicht liefern, würde ihn das eine Menge Popularität kosten. Bekommt er sie, könnte er sich zuhause feiern lassen können. Daher haben beide Seiten ein starkes Interesse an einer Fortsetzung des Abkommens.

Wichtigste Lektion: Verlass' dich auf dich selbst

Letztlich geht es beim Streit um das Anti-Terror-Gesetz um die Frage, wie eng der Begriff Terrorismus gefasst wird. Niemand in Europa ist dagegen, dass die Türkei gegen Terroristen vorgeht. Was Europa bemängelt, ist der Missbrauch des Gesetzes, um unliebsame Politiker und Journalisten zum Schweigen zu bringen. Das sind keine unüberbrückbaren Gegensätze. Viel spricht dafür, dass Erdogan nur den Preis für die Zusammenarbeit noch einmal in die Höhe treiben will, wie er das schon bei der finanziellen Unterstützung getan hat.

Doch auch wenn sich beide Seiten am Ende hoffentlich einigen, tun die Europäer gut daran, eine "Notbremse" gegen einen massenhaften Missbrauch des visumfreien Reisens einzubauen.

Die wichtigste Konsequenz aus den Auseinandersetzungen mit Ankara muss die EU aber erst noch ziehen: Auch wenn das Abkommen mit der Türkei dafür gesorgt hat, dass der Flüchtlingsstrom stark zurückgegangen ist, sollten sich die Europäer nicht allein auf andere Länder als Türsteher verlassen. Ihre Außengrenzen sollten sie vor allem selbst schützen.

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Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik