Wie den Holocaust präsent halten?
Das Massenblatt BILD und sein Online-Ableger bild.de sind hierzulande nicht eben als Lieblingslektüre der intellektuellen Elite sowie des aufgeklärten Bürgertums bekannt. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich in Deutschland gerade diese Medien in den Dienst der diesjährigen Social-Media-Kampagne des Jüdischen Weltkongresses zum Holocaust-Gedenktag stellen.
#WeRemember lädt Menschen weltweit dazu ein, ein Foto von sich und diesem Hashtag hochzuladen und dadurch ein Zeichen des Gedenkens zu setzen. Im KZ Auschwitz, dessen Befreiung durch die Rote Armee 1945 sich am 27. Januar jährt, werden die Bilder an diesem Tag auf einer Großleinwand gezeigt. Eine halbe Million Menschen, so hoffen die Organisatoren, beteiligen sich.
Die Zeitzeugen sterben aus
#WeRemember ist der kreative Versuch, neue Formen des Gedenkens an den Mord an den europäischen Juden durch die Nationalsozialisten zu finden. Denn die eindrücklichen Berichte von Zeitzeugen in Gedenkstunden oder vor Schulklassen werden in Kürze Geschichte sein. Wenn am kommenden Mittwoch Anita Lasker-Wallfisch, das einzige noch lebende Mitglied des Mädchenorchesters von Auschwitz, vor dem Deutschen Bundestag spricht, werden wir möglicherweise letztmals Zeuge eines solch ergreifenden Auftritts.
Und dann? Erstarrt dann das Gedenken im jährlichen Ritual, bei dem stets ein anderer nachgeborener Professor das immer gleiche Thema neu variiert? Das wäre fatal, denn eine solche Erinnerungskultur würde eher abstoßen und das Gegenteil dessen bewirken, was sie eigentlich will.
Mancher mag genau darauf hoffen. "Schluss mit dem deutschen Schuldkult!" und Unsinn ähnlicher Kragenweite wird auch unter diesem Text in den Sozialen Medien wieder zu lesen sein. Da spielt es keine Rolle, dass der frühere Bundespräsident Joachim Gauck vor drei Jahren attestiert hat, es gebe "keine deutsche Identität ohne Auschwitz" - akzeptiert ist das längst nicht von allen, die in diesem Land leben.
Alte und neue Formen des Antisemitismus
Denn schon immer und noch immer werden in Deutschland jüdische Friedhöfe geschändet, Hakenkreuze an Wände geschmiert, ist "Du Jude" ein Schimpfwort auf Schulhöfen und brauchen viele Synagogen dauerhaften Polizeischutz. Das "Nie wieder" als elementare Lehre aus Auschwitz ist bis heute nicht in allen Köpfen angekommen.
Hinzu kommen nun noch neue Formen des Antisemitismus - durch Zuwanderer aus der islamischen Welt. Das ist beileibe kein ausschließlich auf Deutschland begrenztes Phänomen. Dass ein hoher Anteil der französischen Juden mit dem Gedanken an Auswanderung nach Israel oder in die USA spielt, findet ja ebenfalls in erster Linie hierin seine Ursache.
Doch die Bundesrepublik hat sich auch mit Blick auf die Gruppe der Migranten ein hohes Ziel gesetzt: "Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben", sagte der Bundespräsident zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Wie genau das gelingen könnte, sagte Joachim Gauck freilich nicht.
Sicher scheint nur soviel: Ein einziger Tag im Jahr mit starren Gedenkritualen wird auf Dauer kein Verständnis dafür schaffen, warum tätliche Angriffe auf Juden auf offener Straße in Deutschland so wenig akzeptabel sind, wie das Verbrennen des Davidsterns oder Angriffe gegen Gotteshäuser - gleich welcher Religion.
Holocaust-Mahnmal und "Stolpersteine"
Immer wichtiger werden die dauerhaft sichtbaren Erinnerungsorte. Sei es das Holocaust-Mahnmal in Berlin (kein "Denkmal der Schande", sondern ein Denkmal schändlicher Taten), die zu Tausenden verlegten "Stolpersteine" vor den Häusern, in denen Juden lebten, oder die historischen Orte der Konzentrations- und Vernichtungslager.
Ein verpflichtender KZ-Besuch in der Schulzeit, wie er jüngst in Deutschland diskutiert wurde, mag viele junge Leute nachhaltig bewegen und beeindrucken. Ein Allheilmittel in Sachen Immunisierung gegen Antisemitismus ist er hingegen gewiss nicht. Ganz im Gegenteil. Da sind deutlich komplexere Strategien gefordert. Wie überhaupt das Interesse an deutscher Geschichte bei denen, die erst seit kurzem hier leben, nicht zwingend vorausgesetzt werden kann. Lehrer, die schon einmal Geschichte oder Gesellschaftskunde in einer Klasse mit einem Migrantenanteil von mehr als 50 Prozent unterrichtet haben (meine eigene Frau gehört dazu), können ein Lied davon singen.
Auf Dauer selbstverständlich ist die deutsche Erinnerungskultur in ihrer bisherigen Form jedenfalls nicht. Auch das ist eine Botschaft 73 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz.
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