Kosovo und Serbien: Neue Eskalation?
31. August 2022Der 52-jährige Kosovo-Serbe Veroljub Petronic parkt seinen hellroten Kleinwagen an einer belebten Hauptstraße im Norden der Stadt Mitrovica, nahe des Fürst-Lazar-Denkmals. Obwohl Petronic seit über 20 Jahren in Kosovo lebt, hat sein Wagen serbische Kennzeichen. Das ist nicht die einzige Merkwürdigkeit im Alltagsleben des Mannes, der "aus Sicherheitsgründen" nicht veröffentlicht wissen will, wo er arbeitet. Was Petronic aber freimütig erzählt: Er ist zwar Bürger Kosovos und lebt faktisch auch hier, hat sich jedoch offiziell aus dem Land abgemeldet, um einen serbischen Pass zu bekommen. Wenn man ihn auf diese Absurditäten anspricht, reagiert er zutiefst entnervt. "Ich will einfach nur reisen können, zusammen mit meiner Familie", sagt er, "mehr verlange ich doch gar nicht."
Petronics Kennzeichen- und Dokumenten-Wirrwarr klingt kompliziert - und ist es auch. Kosovo, einst Teil Jugoslawiens, ist seit 1999 faktisch ein eigenständiger Staat und rief seine Unabhängigkeit 2008 aus. Doch Serbien erkennt Kosovos Staatlichkeit nicht an - und das hat einschneidende Folgen für den Alltag der Menschen in Kosovo. Sie dürfen mit kosovarischen Dokumenten oder offiziellen Insignien und Symbolen - wie Autokennzeichen - nicht nach Serbien einreisen. Umgekehrt pflegte Kosovo, auch auf internationalen Druck hin, bislang eine andere Praxis: Es ließ bei der Einreise serbische Personaldokumente und Autokennzeichen zu.
Reizthema Reziprozität
Doch diese Praxis ist in Europas jüngstem Staat höchst umstritten, vor allem unter der Regierung des linken Ministerpräsidenten Albin Kurti, der seit März 2021 amtiert und gegenüber Serbien mit weitaus mehr Selbstbewusstsein auftritt als alle seine Vorgänger. Das Stichwort lautet Reziprozität, was sich aus dem diplomatischen Sprachgebrauch übersetzen lässt mit: gleichberechtigte und gleichartige Vorgehensweise.
Kurtis erklärtes Ziel ist es, in den bilateralen Beziehungen mit Serbien Stück für Stück Reziprozität einzuführen. Seine Regierung will es nicht mehr hinnehmen, dass kosovarische Bürgerinnen und Bürger mit ihren Dokumenten und Autokennzeichen nicht nach Serbien einreisen dürfen, während Kosovo seinerseits serbische Dokumente und Kennzeichen akzeptiert.
Als die Regierung Kurti Anfang August 2022 Reziprozität bei der Einreise umsetzen wollte, führte dies fast zu gewaltsamen Auseinandersetzungen im Norden Kosovos. Kosovo-Serben blockierten mit schweren LKWs die Straßen zu den Grenzübergängen. Daraufhin entsandte Kosovo Einheiten der Spezialpolizei an die Grenze. Es gab Berichte, denen zufolge Schüsse gefallen seien.
Neue Spannungen?
Auf Druck der EU hin verzichtete Prishtina nur wenige Stunden nach den dramatischen Ereignissen vorübergehend auf eine Umsetzung des Vorhabens. Ende vergangener Woche wurde nun unter Vermittlung der EU ein vorläufiger, teilweiser Kompromiss erzielt: Demnach dürfen kosovarische Bürger ab 1. September 2022 erstmals mit ihren Personaldokumenten nach Serbien reisen. Nicht geklärt ist jedoch weiterhin die Frage der Autokennzeichen. Kosovo droht deshalb erneut an, Fahrzeuge mit serbischen Kennzeichen nicht einreisen zu lassen, wenn Serbien seine Haltung nicht ändert. Das spannungsgeladene Szenario von Anfang August könnte sich deshalb wiederholen.
Immer, wenn es um Reziprozität geht, nehmen die Spannungen im nördlichen Teil Kosovos zu. Hier leben fast ausschließlich Serben. Den Alltag bestimmen Politiker und Geschäftsleute, die als verlängerter Arm des serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic gelten.
Geteilte Stadt
Zu sehen ist der serbische Einfluss auch im Nordteil der Stadt Mitrovica. Sie war einst berühmt für ihre Jazz- und Bluesfestivals, die Kulturen und Nationalitäten aus ganz Jugoslawien miteinander verbanden. Doch seit Ende des Kosovo-Krieges ist die Stadt praktisch geteilt.
Nördlich des Flusses Ibar, der durch Mitrovica fließt, wohnen fast nur ethnische Serben. Allenthalben wehen hier serbische Fahnen, Autos haben serbische Kennzeichen, Inschriften sind in serbischer Sprache gehalten. Fast immer, wenn Kosovos Behörden hier aktiv werden - sei es, dass sie Maßnahmen zur Reziprozität durchsetzen wollen oder auch nur Polizeiaktionen gegen organisierte Kriminalität durchführen - kommt es zu Unruhe. Sirenen heulen, Barrikaden werden gebaut, LKWs blockieren die Straßen.
Die politischen Repräsentanten der serbischen Minderheit Kosovos - die im Parlament und in der Regierung verfassungsgemäß jeweils Pflichtvertreter haben - drohen in diesen Tagen an, sich aus allen staatlichen Institutionen zurückzuziehen. "Wenn keine Kompromisslösung beim Thema Reziprozität erzielt wird, werden wir beginnen, alle Institutionen Kosovos zu verlassen, angefangen von den zentralen und lokalen Institutionen bis hin zu den Gerichten, der Polizei und der Staatsanwaltschaft", sagte Srdjan Milosavljevic, Vorsitzender der Gemeindeversammlung von Zvecan, einem Ort nördlich von Mitrovica, vor wenigen Tagen auf einer Pressekonferenz in Prishtina.
Alltägliches Bedrohungsgefühl
Doch noch ist es ruhig im Norden Kosovos. Im nördlichen Teil Mitrovicas flanieren die Menschen durch die Fußgängerzone im Zentrum und sitzen in Straßencafés. Dennoch fühlen sich viele in einer Art Dauerbelagerungszustand und leben mit einem Bedrohungsgefühl. Auch Veroljub Petronic. "Ständig sind wir hier im Norden Kosovos angespannt und haben Angst, oft gibt es Demonstrationen und Konflikte mit der Polizei, Hubschrauber kreisen über uns, und all das hat sehr schwere Auswirkungen auf die Menschen, besonders auf die Kinder, denn oft werden wegen der Konflikte Schulen geschlossen", sagt Petronic.
Ähnlich empfindet es seit vielen Jahren auch der Kosovo-Albaner Betim Osmani. Der 41-Jährige ist einer der wenigen Albaner, die im Norden Mitrovicas leben, er hat eine Firma, die Fußbodenbeläge und Wohnungseinrichtungen verkauft. "Wir stehen seit mehr als zwei Jahrzehnten unter Anspannung. Wir haben uns so sehr an all diese Probleme gewöhnt, dass wir nicht einmal mehr irgendeine Lösung sehen", sagt Osmani. Nach einer Pause fügt er hinzu: "Dabei sollten wir, Albaner und Serben, uns doch als Nachbarn und Kollegen fühlen und nicht als Fremde und Feinde."