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Krakau: Die jüdische Gemeinde wächst wieder

3. Dezember 2023

Einst war Krakau eine der größten jüdischen Gemeinden in Polen. Der Holocaust löschte sie fast vollständig aus. Nun wächst die Gemeinde, die gerade mal eine Autostunde von Auschwitz entfernt liegt, wieder an. Ein Besuch.

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"Building A Jewish Future" steht auf einem Transparent des Jewish Community Center in Krakau
"Building A Jewish Future": Im Jewish Community Center in Krakau werden jüdische Traditionen gepflegtBild: Sabine Oelze/DW

"Building A Jewish Future In Krakow" steht auf einem Transparent, das quer über das Eingangstor des Jüdischen Gemeindezentrums im Krakauer Stadtteil Kazimierz hängt. An diesem Freitag, kurz vor dem Shabbat, sitzen im JCC, wie das Jewish Community Center abgekürzt heißt, mehr als 100 Menschen an festlich gedeckten Tischen und warten auf die gemeinsamen Gebete und das anschließende Schabbat-Festmahl. Weil sich das JCC als nicht-religiöser, offener Ort versteht, treffen hier jeden Freitagabend Gäste aus aller Welt aufeinander: Menschen jüdischer Abstammung, aber auch einfach nur Interessierte an der jüdischen Kultur, Religion und Tradition.

Die alte Jüdische Synagoge in Krakau vor wolkigem Himmel
Die jüdische Synagoge in Kazimierz ist die älteste erhaltene Synagoge in PolenBild: Daniel Kalker/picture alliance

Das JCC wurde 2008 von dem heutigen britischen König Charles III. in einem geräumigen Neubau eröffnet. Große Fenster, helle Räume, Platz für kostenlose Kochkurse, einen Chor und Jiddisch- und Hebräischunterricht. Sogar ein Kindergarten ist vorhanden.

Geschichte der jüdischen Gemeinde in Krakau 

Vor der Besatzung durch die Nationalsozialisten war Krakau eine der größten jüdischen Gemeinden in Polen, von den damals rund 65.000 Krakauer Jüdinnen und Juden leben heute noch - oder wieder - 50 Holocaustüberlebende in der Stadt an der Weichsel. Die meisten Überlebenden kehrten nie oder nur ungern an den Ort zurück, von dem aus Familie, Freunde und Verwandte von Nationalsozialisten deportiert und im nur 50 Kilometer entfernten Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet wurden. Dass Kazimierz einmal das Zuhause vieler Jüdinnen und Juden war, sieht man an den vielen Synagogen, Schulgebäuden und Mikwen, den jüdischen Tauchbädern."Hier, wo die jüdische Kultur so vollständig herausgerissen wurde, ist die Pflege jeder noch so kleinen jüdischen Wurzel etwas ganz Wichtiges", sagt Sebastian Rudol, stellvertretender Leiter des JCC. Die Mitgliederzahl wachse, stellt er zufrieden fest. Die dritte Generation nach dem Holocaust entdecke ihre jüdische Herkunft. "Viele der 800 Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Krakau sind keine orthodoxen Juden, sondern Menschen, die erst seit Kurzem wissen, dass sie eine jüdische Identität haben, weil ihre Familie es ihnen jahrelang verheimlicht hat."

Plakate mit Bildern von Menschen, die die Terrororganisation Hamas entführt hat, hängen vor dem JCC in Krakau
Plakate mit Bildern von Menschen, die die Terrororganisation Hamas entführt hat, hängen vor dem JCCBild: Sabine Oelze/DW

Antisemitismus raubte jüdische Identität

Die Wirkungsmacht des Antisemitismus habe in den Jahrzehnten nach der Shoah zum Verlust der jüdischen Identität geführt. "Viele haben erst durch Zufall von ihrer Herkunft erfahren. Jemand hat einen DNA-Test gemacht oder seinen Namen irgendwo in einem jüdischen Online-Archiv gefunden." Zuwachs erhält das JCC außerdem durch Jüdinnen und Juden, die aus der Ukraine fliehen mussten, auch sie finden im JCC eine Anlaufstelle und erhalten Essens- und Kleiderspenden. "Das JCC hat mehr als 200 ukrainische Jüdinnen und Juden aufgenommen."

Sebastian Rudol, stellvertretender Direktor des Jewish Community Center in Krakau, posiert in seinem Büro unter einer israelischen Flagge
Sebastian Rudol, stellvertretender Direktor des Jewish Community Center in KrakauBild: Sabine Oelze/DW

JCC versorgt Holocaust-Überlebende

Und wie kümmert sich das JCC um die Holocaust-Überlebenden? "Die meisten schauen jeden Tag vorbei", sagt Rudol. Zum Gedächtnistraining, zum Reden, zum Singen. Bernard Offen ist regelmäßiger Gast beim Schabbat. Der 95-Jährige mit dem grauen Haarknoten und den strahlend blauen Augen sagt, er wolle die Zeit, die ihm noch bleibt, nutzen, um sein Wissen über den Holocaust weiterzugeben. In einem Prozess der Heilung, wie der Filmproduzent es nennt, kehrte er 1981 zum ersten Mal nach Polen zurück, um sich der Vergangenheit zu stellen.

Bernard Offen ist ein Zeuge des Unvorstellbaren. Er wurde 1929 in Krakau-Podgórze geboren, das später zum Krakauer Ghetto wurde. Er überlebte fünf Konzentrationslager: Plaszow, Julag, Mauthausen, Auschwitz-Birkenau und das Außenlager Kaufering IV des KZ Dachau, wo er 1945 von den Amerikanern befreit wurde.

In den Räumen des JCC trifft er sich regelmäßig mit jungen Menschen: "Ich glaube, dass die polnische Bevölkerung, vor allem die jungen Leute, sehr wenig darüber wissen, was im Holocaust geschehen ist. Bei den Begegnungen hier im JCC geht es darum, das Überleben begreifbar zu machen, jenseits von Statistiken. Es geht darum zu hören, was mit mir, meinem Vater, meiner Mutter und meiner Schwester passiert ist." In seiner Familie wurden mehr als 50 Menschen ermordet, neben Bernard Offen überlebten nur seine beiden Brüder, die er nach dem Krieg in Italien wiedergefunden hat.

Gräber auf dem alten jüdischen Friedhof in Krakau
Der alte jüdische Friedhof im ehemaligen jüdischen Viertel ist heute vor allem eine TouristenattraktionBild: Hans Ringhofer/picturedesk.com/picture alliance

Bernard Offen hat sich entschieden, wieder in Krakau zu leben. Das JCC stellt ihm eine Wohnung zur Verfügung und hilft ihm im Alltag. Nur wenn es im Winter zu kalt sei, fliege er in die USA, um seine Familie zu besuchen. "Ich war kein polnischer Bürger. Ich war Jude. So wurde ich von den Katholiken hier behandelt. Es gab - und es gibt immer noch - Diskriminierung. Meine Botschaft ist, dass man als religiöser Mensch andere Menschen nicht hassen kann." Das JCC sei kein religiöses Zentrum, aber er sei froh, "dass sie einige Traditionen bewahren".

JCC erhält Unterstützung aus den USA

Es sei keine Wiedergeburt aus dem Nichts, unterstreicht Sebastian Rudol. Das Judentum sei in Krakau nie ganz verschwunden. Doch erst die private finanzielle Unterstützung aus den USA erlaube nun diese zarte Renaissance. "Das Jüdische Komitee in den USA war sehr bewegt von der Idee einer jüdischen Gemeinde in der Nähe von Auschwitz." Jahrelang seien die Holocaust-Überlebenden und ihre Nachfahren davon ausgegangen, dass in Krakau vom jüdischen Leben nichts mehr übrig sei, außer "Blut und Asche". Krakau nimmt in Polen einen ganz besonderen Platz ein. Die Stadt ist nur eine Autostunde von Auschwitz entfernt.

"Wir müssen sehr aktiv dafür werben, was wir hier tun, und über das jüdische Wiederaufleben und die Tatsache, dass es hier sicher ist, sprechen. Denn je mehr wir darüber reden, desto mehr Menschen erfahren davon und entscheiden sich vielleicht, hierher zu kommen", hofft Rudol. Dass es möglich ist, beweist Bernard Offen. Er führt heute Jugendliche zu den Orten, an denen er gelebt und überlebt hat. Das JCC ist für ihn eine "Oase des Humanismus".

Autorin Sabine Oelze
Sabine Oelze Redakteurin und Autorin in der Kulturredaktion