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Kreml-kritischem TV-Sender droht Schließung

Alexander Warkentin30. Januar 2014

Der Pay-TV-Kanal "Doschd" ist dem Kreml ein Dorn im Auge. Nun dient eine umstrittene Umfrage zur Leningrader Blockade als Grund oder Vorwand, den oppositionellen Sender aus den Kabelnetzen zu entfernen.

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Beim TV-Kanal Doschd (Foto: Valeriy Levitin/RIA Novosti)
Bild: picture-alliance/dpa

Am 27. Januar jährte sich zum 70. Mal der Tag der Befreiung St. Petersburgs - zu Sowjetzeiten Leningrad - aus der Blockade. Fast 900 Tage lang hatten seinerzeit deutsche Truppen die Stadt belagert und bombardiert. Hitler hatte den Befehl gegeben, die Stadt nicht einzunehmen, um die Bevölkerung nicht mit Lebensmitteln versorgen zu müssen. 649.000 Menschen starben, davon 632.253 an Hunger und Kälte - diese Zahlen wurden im Nürnberger Prozess genannt. Seitdem wurden die Zahlen nach oben korrigiert, Schätzungen reichen bis zu 1,5 Millionen Opfer. Die Blockade von Leningrad gilt als eines der schlimmsten Kriegsverbrechen Nazideutschlands.

Zu diesem tragischen Jahrestag wagte der Moskauer Fernsehkanal "Doschd" eine Umfrage im Internet, ob durch eine Übergabe der Stadt an die Deutschen womöglich das Leben von Hunderttausenden Leningradern hätte gerettet werden können. 54 Prozent der User antworteten mit "Ja". Die Umfrage löste einen Sturm der Empörung aus. Mehrere Provider - "Doschd" wird über Kabel, Satellit und Internet verbreitet - stoppten die Übertragung des Programms. Die St. Petersburger Staatsanwaltschaft prüft ein Verfahren wegen Extremismus. Viele russische Intellektuelle aber meinen, die Reaktion auf die Umfrage sei nur ein Vorwand, um den oppositionellen Kanal gleichzuschalten oder zu schließen.

Live-Berichterstattung über den "Euromaidan"

Der private Fernsehkanal "Doschd" ist eine Ausnahme in der russischen Fernsehlandschaft. Fast zwei Drittel des Programms - politische Talkshows, Nachrichten, analytische und experimentelle Formate - werden live gesendet. Bei den staatlichen Kanälen gilt das allenfalls für Sportübertragungen. "Doschd" lässt Oppositionelle vor die Kameras, die in gleichgeschalteten Sendern Auftrittsverbot haben. So durfte der Korruptionsbekämpfer Alexej Nawalny über die undeklarierten Vermögen und Immobilien von Abgeordneten der Staatsduma sowie hochrangigen Beamten berichten.

Blick auf den Maidan in Kiew (Foto: REUTERS/Vasily Fedosenko)
"Doschd" berichtet ausführlich über die Protestbewegung auf dem Kiewer MaidanBild: Reuters

Ein aktuelles Beispiel ist die Berichterstattung über die pro-europäischen Demonstrationen in der Ukraine. Staatliche russische Sender brandmarken die Besetzer des Maidan, des Unabhängigkeitsplatzes in Kiew, als Ultranationalisten und Verbrecher. "Doschd" berichtet aber auch über die brutalen Polizeieinsätze sowie über den Versuch des korrupten ukrainischen Präsidenten Janukowitsch, das Land zu "putinisieren".

"Doschd" ist ein Pay-TV-Sender. Ein Jahresabonnement kostet 1000 Rubel - umgerechnet etwa 22 Euro. Im Internet kann man die Sendungen mit einer gewissen Verspätung auch kostenlos sehen. Doch die Zuschauerzahl ist dort auf einige Hunderttausend beschränkt. "Doschd" ist ein Partnersender der Deutschen Welle. Dreimal pro Woche gibt es eine Live-Schalte. Darin berichtet der Mitarbeiter des russischen Dienstes der DW, Viacheslav Yurin, über die wichtigsten Ereignisse in Deutschland.

Berechtigte Frage oder gewissenlose Provokation?

Gleich nach dem ersten Sturm der Entrüstung über die Umfrage zur Leningrader Blockade in den sozialen Netzwerken schrieb "Doschd"-Chefredakteur Ilja Kaschin auf Twitter: "Die unkorrekte Frage über die Leningrader Blockade war ein Fehler des Produzenten und des für die sozialen Netzwerke zuständigen Redakteurs. Die Frage wurde gelöscht. Wir bitten um Entschuldigung."

Aber da hatte sich bereits das russische Parlament der Sache angenommen. "Was wir auf der Internetseite von 'Doschd' gesehen haben, ist eine direkte Verhöhnung des heiligen Gedenkens an den Krieg, aller Opfer der Blockade. Derlei Handlungen müssen immer als Verbrechen qualifiziert werden, die das Ziel verfolgen, den Nazismus zu rehabilitieren", schreibt eine führende Vertreterin der Kreml-Partei "Einiges Russland", Irina Jarowaja.

Der gleichen Meinung sind auch Kommunisten und Mitglieder der Schirinowski-Partei in der Staatsduma. Aber auch viele einfache Russen empfinden jedes Rütteln am Mythos des Zweiten Weltkrieges als strafbare Blasphemie.

Vorwand für Verschärfung der Zensur

Diejenigen, die "Doschd" verteidigen, sind geteilter Meinung. So sagte der Leiter der Stiftung "Gesellschaftliche Expertise" Igor Jakowenko im DW-Interview, weder die Formulierung noch die Frage über die Leningrader Blockade an sich böten Grund für eine moralische Verurteilung. Diese Frage habe auch der Schriftsteller und Kriegsveteran Viktor Astafjew gestellt. Was sei wichtiger: Gebäude und Maschinen oder Menschen? Ist der Staat für den Menschen da oder der Mensch für den Staat?

Der Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation, Wladimir Lukin, hält die Umfrage zwar für misslungen und den Zeitpunkt für falsch. Aber auch er spricht sich im Interview mit der russischen Nachrichtenagentur Interfax strikt gegen eine Schließung des TV-Kanals aus. Dies hieße, "mit einer Kanone auf Spatzen zu schießen", so Lukin.

Deutschland als Beispiel

Es ist bemerkenswert, dass sich sowohl Gegner als auch Verteidiger von "Doschd" auf Deutschland berufen. Hier wurde der 70. Jahrestag der Befreiung aus der Blockade mit einer Rede des 95-jährigen St. Petersburger Schriftstellers Daniil Granin vor dem Deutschen Bundestag begangen.

Daniil Granin, gestützt von Bundespräsident Joachim Gauck und Bundestagspräsident Norbert Lammert und begleitet von Kanzlerin Angela Merkel (Foto: AP Photo/Michael Sohn)
Daniil Granin: Erinnerte im Bundestag an die Leningrader BlockadeBild: picture-alliance/AP Photo

Wadim Ampelonski, Pressesprecher von "Roskomnadsor" - eine Art russische Netzagentur - verurteilt die "Doschd"-Umfrage aufs Schärfste und setzt ihr die Rede Granins im Bundestag, die von DW-TV übertragen wurde, entgegen: "Verglichen mit der Medien-Schande im Siegerland zum 70 Jahrestag der Befreiung aus der Blockade haben die deutsche Gesellschaft und die Medien ein ganz anderes Niveau an bürgerlicher und moralischer Reife demonstriert", urteilt Ampelonski im Interfax-Interview.

Ganz andere Schlüsse zieht der russische Journalist Boris Sinjawski. Unter der Überschrift "Die Geschichte ist eine alte Hure, die Politik auch, aber eine junge" beschreibt er, dass die Bundestagsabgeordneten von Granins Rede erschüttert und nicht empört gewesen seien, so wie das bei russischen Abgeordneten häufig der Fall sei. Die Gründe für die maßlose Empörung in der Duma erklärt er damit, dass mehr als die Hälfte der russischen Bevölkerung noch immer in den einst von der kommunistischen Propaganda fabrizierten Mythen gefangen lebe. Die Russen, schreibt Sinjawski, seien immer noch nicht unter der Schirmmütze Stalins hervorgekrochen - als Einzelpersonen vielleicht, aber nicht als ganzes Land.