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Krimtataren im Visier Russlands

Roman Goncharenko21. April 2016

Zwei Jahre nach der Annexion der Krim verstärkt Moskau den Druck auf die dort lebenden Krimtataren. Ihre Vertretung, der Medschlis, wurde faktisch verboten. Der Protest aus Kiew und Straßburg bleibt ungehört.

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Krimtataren Protest in Kiew Flagge (Foto: picture alliance/ZUMA Press/S. Glovny)
Bild: picture alliance/ZUMA Press/S. Glovny

Es ist der wohl schwerste Schlag für die Krimtataren seit der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im März 2014: Das Justizministerium in Moskau hat die Arbeit des Medschlis suspendiert. Das Vertretungsorgan des krimtatarischen Volkes stehe nun auf einer Liste von Organisationen, deren Aktivitäten wegen Extremismus untersagt seien, hieß es. Das Ministerium folgt damit der vor rund einer Woche verkündeten Entscheidung der Staatsanwältin der Krim, Natalia Poklonskaja. Sie hatte bereits im Februar einen Verbotsantrag gegen den Medschlis beim Obersten Gericht der Halbinsel eingereicht. Die Entscheidung steht noch aus.

Der Medschlis ist das höchste Selbstverwaltungsorgan der Krimtataren. Seine 33 Mitglieder werden alle paar Jahre von der krimtatarischen Volksversammlung gewählt, dem Kurultaj. Die jetzige Suspendierung gleicht einem faktischen Verbot, denn die Arbeit des Medschlis wird lahmgelegt. Seine Vertreter dürfen nicht mehr bei staatlichen oder kommunalen Medien auf der Krim auftreten, Massenveranstaltungen durchführen oder Bankkonten nutzen. "Ihre ganze Propaganda wird verboten", sagte Poklonskaja.

Kritik vom Europarat

Die russische Entscheidung löste sowohl in der Ukraine als auch international Kritik aus. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko sagte: "Eine Linie ist überschritten worden." Der Parlamentsvorsitzende Andrij Parubij appellierte an den UN-Sicherheitsrat, auf dieses "Verbrechen" zu reagieren. Der in Kiew lebende ehemalige Anführer der Krimtataren, Mustafa Dschemiljew, bezeichnete die Suspendierung in einem Interview als "Kriegserklärung" an sein Volk.

Wenige Tage zuvor hatten die Europäische Union und der Europarat an Russland appelliert, den Medschlis nicht zu verbieten. Die Volksvertretung der Krimtataren müsse das Recht haben, weiter arbeiten zu können, forderte in einer Erklärung der Generalsekretär des Europarats, Thorbjörn Jagland. Russland zerstöre Minderheitenrechte, kritisierte in einer Stellungnahme auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International.

Proukrainische Minderheit

Mit bis zu 300.000 Einwohnern sind die Krimtataren nach Russen und Ukrainern die drittgrößte ethnische Gruppe auf der Krim, deren Gesamtbevölkerung auf rund zwei Millionen geschätzt wird. Anders als die Russen, die erst im 18. Jahrhundert die Halbinsel eroberten, lebten die Krimtataren bereits früher dort.

In der Endphase des Zweiten Weltkriegs, 1944, ließ die damalige sowjetische Führung unter Stalin mehr als 180.000 Krimtataren nach Zentralasien zwangsumsiedeln. Als Begründung wurde deren angebliche Kollaboration während der deutschen Besatzung genannt. Tausende kamen bei der Deportation ums Leben. Die krimtatarische Sängerin Jamala hat über jene Ereignisse ein Lied geschrieben, mit dem sie die Ukraine beim diesjährigen Eurovision Song Contest (ESC) in Stockholm im Mai vertreten wird.

Kiew, Susana Jamaladinova, Jamala beim ESC Vorentscheid (Foto: Reuters/V. Ogirenko)
Die krimtatarische Sängerin Jamala vertritt die Ukraine beim diesjährigen Eurovision Song ContestBild: Reuters/V. Ogirenko

Ende der 1980er und in den 1990er Jahren kehrten die meisten Krimtataren in ihre ursprüngliche Heimat zurück. Die Ukraine nahm sie auf. Die meisten Krimtataren sind deshalb Kiew verbunden und stellten sich von Anfang an gegen die russische Annexion. Bei Massenkundgebungen Ende Februar 2014 setzten sich die Tataren dafür ein, dass die Krim unter ukrainischer Führung bleibt.

Entführungen und Einschüchterung

Nach der Annexion gab es keine Aufstände der Krimtataren auf der Halbinsel. Viele haben offenbar Angst vor einer erneuten Zwangsumsiedlung. Einzelne Aktivisten beteiligen sich vom ukrainischen Festland aus an der Wirtschaftsblockade der Halbinsel.

Doch im Schatten des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine gerät die krimtatarische Minderheit immer stärker unter Druck. Seit zwei Jahren gibt es immer wieder Meldungen über verschwundene Krimtataren. Einige wurden tot aufgefunden. Menschenrechtler berichten über Hausdurchsuchungen und Einschüchterungen durch russische Geheimdienste. Der beliebte krimtatarische Fernsehsender ATR verlor 2015 seine Lizenz und musste nach Kiew umziehen.

Prorussische Krimtataren wollen eigenen Medschlis

Die Anführer der Krimtataren, der Vorsitzende des Medschlis, Refat Tschubarow, und sein Vorgänger Dschemiljew, leben heute im Exil in Kiew. Russland hat ihnen die Einreise auf die Krim für fünf Jahre untersagt. Gegen beide wurde Haftbefehl erlassen. Prorussisch eingestellte Krimtataren haben unterdessen angekündigt, einen neuen, Moskau-treuen Medschlis zu gründen.

Tschubarow und Dschemiljew vermuten, dass Russland mit dem zunehmenden Druck die Krimtararen zur Ausreise zwingen will. Dschemiljew schätzt, dass seit der Annexion rund 20.000 Krimtataren die Halbinsel verlassen haben. Andere Quellen nennen deutlich höhere Zahlen.