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"Wir lassen uns die Krim nicht wegnehmen!"

Juri Rescheto, Simferopol22. Mai 2016

Mehr als zwei Jahre sind vergangen seit dem Anschluss der Krim an Russland. Eine Volksgruppe fühlt sich zunehmend unwohl auf der Halbinsel im Schwarzen Meer: die Krimtataren. Von Juri Rescheto, Simferopol.

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Demonstration von Krimtataren. (Foto: Pavel Rebrov/Reuters)
Bild: Reuters/P.Rebrov

"Jetzt kann mir keiner was!", freut sich leicht triumphierend Zera Emir-Suin. "Jetzt habe ich eine Kryscha: nämlich den Obermufti der Krim!" Das Wort "Kryscha" bedeutet eigentlich Dach. Damit meint man im Russischen aber auch einen Schutzpatron. Und den braucht Emir-Suin heute wie nie zuvor. Noch vor einem Jahr war sie eine der bekanntesten Fernsehjournalistinnen der Halbinsel. Freches Lächeln, scharfe Zunge, Kämpferin für die gerechte Sache. Menschen riefen sie an, baten um Hilfe, Krimtataren wir sie. Und sie half in ihren Sendungen.

Obermufti der Krimtataren Emirali Ablaev. (Foto: Alexei Pavlishak/TASS)
Obermufti Ablaev: Schutzpatron der KrimtatarenBild: picture-alliance/dpa/A.Pavlishak/Ausschnitt

Dann wurde aber ihr Fernsehsender ATR über Nacht verboten. Zera Emir-Suin verlor ihren Job. Wie hunderte andere Krimtataren fühlte sie sich plötzlich unerwünscht und unter Generalverdacht gestellt - in ihrer Heimat, die plötzlich unter russischer Herrschaft stand. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit und Verzweiflung fand sie - "Allah sei Dank" - ihr Glück wieder, sagt sie: als Pressesprecherin der obersten geistigen muslimischen Religionsbehörde der Krim, kurz DUMK. Und damit ist das religiöse Oberhaupt der Krimtataren, Obermufti Emirali Ablaev, Zeras Schutzpatron.

Vor der Bor-Tschokrach-Moschee wirkt die sonst so selbstbewusste Frau auf einmal wie ausgewechselt: "Bis hierhin und nicht weiter," flüstert die Mittvierzigerin voller Ehrfurcht. "Frauen dürfen diesen Gebetsraum nicht betreten!" Zera Emir-Suins bleibt am Eingang der Moschee stehen. Drinnen findet ein Gedenkgottesdienst statt. Das Gotteshaus steht mitten in der Krimtataren-Siedlung am Rande von Simferopol. Um die hundert Männer beten hier und gedenken der Opfer der Deportation vor 72 Jahren.

Deportation nach Usbekistan

Im Mai 1944 hatte der sowjetische Diktator Josef Stalin angeordnet, die Krimtataren zwangsweise nach Usbekistan umzusiedeln. Die Vertreibung der Krimtaren von ihrer historischen Heimat nach Zentralasien aufgrund des Verdachts, sie könnten die Sowjets im Kampf gegen Hitler-Deutschland verraten, war nicht bloß die gewaltsame Deportation einer Volksgruppe. Es war ein Angriff auf die Würde der Krimtataren, auf ihr Recht zu existieren.

Sowjetische Sicherheitskräfte pferchten in erster Linie Frauen und Kinder, Alte und Schwangere nachts in Viehwaggons um sie nach Usbekistan zu schicken. Die meisten Krimtataren-Männer kämpften zu dieser Zeit an der Front gegen Nazi-Deutschland, was den sowjetischen Vorwurf gegen die Volksgruppe als besonders absurd erscheinen lässt. Die wochenlange Fahrt nach Zentralasien wurde zur Qual für die Deportierten. Viele starben unterwegs. Viele sahen ihre Heimat nie wieder.

Bor-Tschokrach-Moschee in Simferopol. (Foto: Juri Rescheto/DW)
Bor-Tschokrach-Moschee in Simferopol: Gedenkgottesdienst für DeportationsopferBild: DW/J. Rescheto

In einem dieser Waggons saß die damals fünfjährige Moradie. Auch ihr Vater kämpfte an der Front gegen die Nazis. Aber das half eben nichts. Moradies ganze Familie musste ihr Haus verlassen und wurde nach Usbekistan abtransportiert. Heute ist Moradie 77 Jahre alt. Nach dem Gottesdienst in der Bor-Tschokrach-Moschee ist sie mit ihrem Mann Akchy, ihren Enkeln Lilia und Eldar zum Kaffee im Haus von Ex-Moderatorin Zera Emir-Suin. Man kennt sich hier in der Krimtataren-Siedlung am Stadtrand von Simferopol.

Zunehmender Druck auf die Krimtataren

"Man hat uns Krimtataren immer schlecht behandelt," schimpft Moradie, die ihren ganzen Namen lieber nicht nennen will. "Und jetzt kommt dieser Russe wieder und will uns schon wieder was. Ich will das nicht! Ich will lieber sterben als meine Krim verlassen." "Dieser Russe" - das sind die "grünen Männchen", wie man russische Soldaten hier vor zwei Jahren bezeichnete, die eine ukrainische Militärbasis nach der anderen eroberten, leise, fast ohne Kampf. Damals, als die Krim plötzlich nicht mehr ukrainisch, sondern russisch wurde, nach dem umstrittenen Referendum über den Anschluss.

Krimtatarin Zera Emir-Suin (Foto: Juri Rescheto/DW)
Krimtatarin Emir-Suin: "Wie zu Zeiten der Sowjetunion"Bild: DW/J. Rescheto

"Schimpf nicht, Oma Moradie! Lebe einfach dein Leben in Frieden, dir wird doch keiner was antun!", beruhigt Zera Emir-Suin. Dabei nimmt der Druck auf die Krimtataren tatsächlich zu. So haben die russischen Behörden beispielsweise den jährlichen Deportations-Gedenkmarsch verboten. Viele oppositionelle Krimtataren sind bereits in die Ukraine gezogen. Emir-Suin selbst musste in den vergangenen Monaten mehrmals "im Kabinett" sitzen, wie sie Verhöre beim Staatsanwalt nennt. Weil sie kritisch war in ihren Berichten. Zu kritisch. Und weil sie damals noch keine Kryscha hatte, die schützende Hand ihrer Religionsbehörde.

Birken und Wolga statt Zypressen

"Es gibt keine Diskriminierung im Alltag, erzählt die ehemalige Journalistin. "Keiner hasst dich, weil du Krimtatare bist. Überhaupt ist die Krim eine einzigartig friedliche Halbinsel, auf der 140 Nationalitäten seit eh und je zusammenleben", sagt Emir-Suin. "Aber dieser Generalverdacht ist diskriminierend. Ich kenne Häuser, die plötzlich durchsucht wurden. Nachbarn, die plötzlich verschwanden. Viele meiner Bekannten trauen sich nicht mehr offen zu sagen, was sie früher sagen konnten. Auch ich bin schlauer geworden." Schlauer oder Ängstlicher? "Man passt sich an, sagen wir mal so. Man redet zwischen den Zeilen. Es ist wie früher zu Zeiten der Sowjetunion."

Ob sie nicht lieber in die Ukraine ziehen wolle, wie 20.000 andere Krimtataren nach der Annexion durch Russland? "Niemals!", sagt Zera Emir-Suin sehr bestimmt. "Weil die Krim uns gehört!" Ihr überraschendes Argument: Es gebe kein einziges russisches Volkslied über die Krim. Die Russen würden über Birken und die Wolga singen, aber niemals über die Zypressen der Krim. "Das sind unsere Nationalbäume. Unser Stolz und unser Schmerz", sagt Emir-Suin. "Unsere Vergangenheit und unsere Zukunft."