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Krise der Wirtschaft? Auch ohne Corona.

Kate Ferguson
26. April 2020

Die Corona-Pandemie wirft ein grelles Licht auf längst sichtbare Verwerfungen in der globalen Wirtschaft: auf zügellosen Konsum und wachsende Ungleichheit. Es wird Zeit für einen radikalen Wandel, findet Kate Ferguson.

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Spanien Altenpflege Coronavirus Test
Bild: picture-alliance/AP/S. Palacios

Für einige ist es der Moment, da es aus und vorbei ist. Der weiße Schatten, den der Handschuh der Krankenschwester auf den Bildschirm wirft. Das letzte sichtbare Signal, irgendwo zwischen ihnen und ihren Liebsten. Andere werden sich an langes Warten erinnern, auf dem Parkplatz des Pflegeheims. Näher kamen sie nicht.

Die Glücklicheren werden irgendwann sagen: Erinnerst du dich, als die Leute mit Masken einkaufen gingen? Welches Jahr war das noch? 2020? Ja. Klar. Mensch! Alles geschlossen, und monatelang! Ich konnte schließlich richtig gut backen. Und Klavierspielen hab‘ ich auch gelernt. Was für Zeiten!

Aber da sind wir noch nicht. Noch ist nicht der Moment, in Erinnerungen zu schwelgen. Noch kann man etwas lernen durch diesen Schlamassel. Die Gelegenheit müssen wir nützen. Unbedingt.

Im Zentrum: die Wirtschaft

Wie in den meisten Krisen geht es auch jetzt um die Wirtschaft. Es geht um die, die etwas haben und um die Habenichtse. Um die, die etwas kriegen sollten, und die, die nichts mehr kriegen sollten.

In dieser Woche bescherte uns die Ölindustrie eine Metapher für den wertlosen Überfluss, der die globale Wirtschaft auszeichnet. Den US-Ölproduzenten, die West Texas Intermediate fördern, gingen die Lagerkapazitäten aus, es blieb ihnen nichts anderes übrig als dafür zu bezahlen, um die eigene Ware loszuwerden. Im Ergebnis plumpste der US-Ölpreis zum ersten Mal in der Geschichte unter Null. Die Ölfässer liefen über, aber die Leute wurden ärmer.

Derweil aber, während Flugzeuge am Boden bleiben, Fabriken leer stehen, Büros geschlossen sind, taucht ein ungleich wertvollerer Rohstoff auf: Zeit. Zeit zuhause. Zeit in der Natur. Zeit mit der Familie. Zeit zu kochen. Zeit für die Kunst. Zeit nachzudenken.

Berlin Bianca Hase Konzertflötistin musiziert öffentlich
Zeit zuhause. Zeit für die Kunst.Bild: DW/Christoph Strack

Mehr Zeit für sich?

Es war im Jahr 1930, als der britische Ökonom John Maynard Keynes voraussagte, der technologische Fortschritt werde zu einem dramatischen Rückgang der Arbeitszeit führen. Nach seiner Prognose sollte eine 15-Stunden-Woche ausreichen, und die gewonnene Zeit könnte dem intellektuellen Fortkommen dienen, der Erholung und den Künsten. Er konnte ja nicht ahnen, dass der Trend eher in Richtung des Fetischs Produktivität gehen würde, gepaart mit obsessivem Konsum. Dass Zeit also ein wahrlich rarer Rohstoff werden würde.

DW Kommentarbild Kate Ferguson
Kate Ferguson, DW-Redaktion

Eine Bevölkerung mit wenig Zeit und praktisch ohne Jobsicherheit ist ein Geschenk für Populisten und eine Gefahr für die Demokratie. Gedankenlosigkeit, Erschöpfung und eine Mobilisierung für alle möglichen falschen Sachen sind das Resultat. Genau das erleben wir gerade.

Schauen Sie in Richtung USA, wo der Präsident – wie üblich – die Krise verdreht oder vermarktet, um selbst Nutzen daraus zu ziehen. Das kostet im Ergebnis viele Menschenleben. Trotzdem versammeln sich Demonstranten auf der Straße, um gegen die Maßnahmen zu protestieren, die umsichtigere Gouverneure angeordnet haben, um sie zu schützen.

In China, wo das Virus seinen Ausgang nahm, wurde Dr. Li Wenliang, der anfangs offen darüber sprach, brutal zum Schweigen gebracht. Als der Wind sich drehte, wurde er rehabilitiert, aber da war es zu spät. Da war er schon tot.

In Großbritannien, in Brasilien, auf den Philippinen kostet die Arroganz und Uneinsichtigkeit führender Politiker Menschenleben. In Neuseeland, Deutschland oder Taiwan hingegen zeigt sich, dass Bescheidenheit zur lebensrettenden Ressource werden kann.

Es war schon früher etwas faul

In weiten Teilen der Welt ist der Arbeitsmarkt inzwischen gespalten: hier diejenigen, die lebenswichtig sind, da die, die es nicht sind. Viele derer, von denen unser Überleben abhängt, werden nicht angemessen bezahlt. Pflegekräfte, Putzleute, LKW-Fahrer, Kassiererinnen im Supermarkt, Erntehelfer arbeiten weiter, während Werbeleute, Marketingkräfte, Börsianer und Fußballspieler zuhause bleiben.

All das ist ein Anzeichen dafür, dass die globale Wirtschaft schon krank war, lange bevor das Virus zuschlug. Glücklicherweise gibt es hier Gegenmittel. Vieles davon beginnt schon bei uns selbst. Wir können weniger kaufen, und wir können regional einkaufen, um endlich den Run auf die billigste Arbeitskraft unter den elendsten Bedingungen zu stoppen.

Symbolbild Konsumklimaindex
"Produktivität und obsessiver Konsum" Bild: picture-alliance/dpa

Wir können Gesetze erlassen, damit jemand, der eine unverzichtbare Arbeit tut, nicht schlechter bezahlt wird als diejenigen mit dem mittleren Einkommen eines Landes. Oder idealerweise deutlich besser.

Wir können uns weigern, Politiker zu akzeptieren, die Hass und Bosheit säen und stattdessen diejenigen belohnen, die Mitgefühl und Umsicht an den Tag legen. Wir können uns unsere Zeit zurückholen, indem wir Flexibilität von unseren Arbeitgebern einfordern, und auf Karriereleitern verzichten, die es nicht wert sind, dass man sie hinaufklettert. Wir können aufhören, den Reichtum zu feiern und uns stattdessen an den Künsten freuen.

Wir müssen allerdings anerkennen, dass die einzige Rettung vor dem moralischen Bankrott, den diese Krise uns vor Augen führt, eine funktionierende Demokratie ist. Wir müssen daran denken, dass es dafür informierte, engagierte Bürgerinnen und Bürger braucht, die die Zeit und die Mittel haben, sich auf lokaler Ebene dafür einzusetzen, was sie auf globaler Ebene für richtig halten. Das ist der einzige Weg, auf dem eine Wirtschaft gesunden kann, deren Gebrechen weit vor der Corona-Krise begannen.