Kritik an Lockerung von EU-Asylregeln
2. Dezember 2021"Wir sind eine Familie, wenn einer von uns angegriffen wird, dann sind die anderen für ihn da", erklärte Vizepräsident Margaritis Schinas im Pressesaal der EU-Kommission. Seit der frühere Sprecher der Institution zum Vertreter Griechenlands in der Kommission und damit in die erste Reihe der Brüsseler Hierarchie aufgerückt ist, ummantelt er seine Anliegen gern mit hochtönender Rhetorik. So nannte er die Ausnahmeregelung, die für Polen und die baltischen Staaten im Umgang mit Flüchtlingen gelten sollen, einen Akt der "greifbaren Solidarität".
Vorübergehende Aussetzung von Flüchtlingsrechten
Schinas schlägt vor, gemeinsam mit der für Migration zuständigen schwedischen Kommissarin Ylva Johansson, EU-Recht an den Grenzen zu Belarus für das nächste halbe Jahr "vorübergehend" auszusetzen. Die europäischen Verträge würden in einer "Notfallsituation außergewöhnliche Maßnahmen" wie diese erlauben.
Danach sollen Flüchtlinge bis zu 16 Wochen in geschlossenen Lagern an der Grenze festgehalten werden dürfen, um einen entsprechend verlängerten Asylprozess zu durchlaufen. Die Zeit für die Registrierung wird auf vier Wochen ausgedehnt und schnellere Abschiebungen sollen ausdrücklich erlaubt werden. Die EU-Innenminister können in der kommenden Woche den Vorschlag beschließen, ohne dass das Europaparlament einer solchen "Notfallmaßnahme" zustimmen müsste.
Von dort kam auch umgehend Kritik: "Insbesondere aufgrund der sinkenden Zahlen von Asylsuchenden an der EU-Grenze zu Belarus ist solch ein restriktiver Umgang mit den europäischen und internationalen Verpflichtungen zum Asylrecht und zum Verbot von Pushbacks inakzeptabel", schreibt die innenpolitische Sprecherin der sozialdemokratischen Fraktion, Birgit Sippel. Statt den Menschen vor Ort zu helfen, spielten die Vorhaben den Regierungen in die Hände, welche die Notlage schutzbedürftiger Menschen ausnutzen wollen, um eine angebliche Migrationskrise heraufzubeschwören.
Der Notfall ist faktisch vorbei
Die beiden Kommissare räumten bei der Vorstellung ihrer "Notfallmaßnahmen" auch ein, dass die Situation in Belarus sich deeskaliere. Die Frage aber, warum sie dann trotzdem jetzt noch die Rechte von Flüchtlingen nachträglich aufweichen wollten, ließen sie schlicht unbeantwortet. Die EU habe mit ihrem Krisenmanagement selbst erreicht, das kaum noch Menschen nach Belarus einreisen würden, so hieß es. Schinas betont seinen eigenen Beitrag dazu, weil er mit einer Reihe von Reisen in Herkunfts- und Transitländer dafür gesorgt zu haben, dass die Flüge nach Minsk für Migranten eingestellt respektive Reiseverbote ausgesprochen wurden.
Für die Grünen im Europaparlament erklärte ihr Migrationsexperte Erich Marquard: "Es ist äußerst zweifelhaft, ob die EU-Kommission den Geist nochmal in die Flasche kriegt, nachdem sie 18 Monate lang systematischen Menschenrechtsverletzungen gegen Schutzsuchende weitgehend zugesehen hat." So hat der polnische Grenzschutz über die letzten Monate hinweg die tägliche Zahl der nach internationalem Recht verbotenen Pushbacks veröffentlicht, ohne dass die Regierung in Warschau dafür jemals aus Brüssel kritisiert wurde.
Nach wie vor behindert die polnische Regierung auch die freie Berichterstattung an der Grenze und den Zugang für Hilfsorganisationen. In Polen trat am Mittwoch im Eilverfahren ein neues Grenzschutzgesetz in Kraft, das den bisherigen Ausnahmezustand an der Grenze ersetzt und die geltenden Einschränkungen legalisiert: Der Innenminister kann danach den Zugang zum Grenzgebiet untersagen und eine 15 Kilometer breite Sperrzone festlegen, womit quasi ein rechtsfreier Raum geschaffen wird.
Im polnischen Senat und beim Bürgerrechtsbeauftragten gibt es Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Gesetzes, weil es der polnischen Verfassung widerspreche. Die Kommission in Brüssel allerdings ließ das eindeutig gegen internationale Regeln verstoßende Gesetz unkommentiert und reagierte stattdessen mit der angekündigten Einschränkung von Flüchtlingsrechten.
Die Hilfsorganisation Oxfam wies einmal mehr darauf hin, dass "Menschen festzuhalten und zu kriminalisieren, die in Europa Sicherheit suchen, internationales und europäisches Recht bricht". Und Amnesty International kritisiert, dass "Asylregeln eingehalten und nicht durch Ausnahmemaßnahmen unterlaufen werden sollten". Die Ankömmlinge an der Grenze zu Belarus könnten ohne Probleme mit den geltenden Regeln bewältigt werden. Amnesty sei alarmiert, dass durch den Vorschlag der Kommission die Rechte von Menschen verletzt und die humanitäre Krise verschärft werde.
Cui bono - oder wem nützt der Vorstoß der Kommission?
Es ist kein Zufall, dass sich ausgerechnet der griechische Kommissar Margaritis Schinas für die Aushöhlung des Asylrechts stark macht. Seit Monaten behauptet die Regierung in Athen, alle Berichte über illegale Pushbacks an ihren Grenzen seien unwahr. Trotz genauer Beweisführung in einigen Fällen durch verschiedene Medien behauptet Athen hartnäckig, die zahlreichen Berichte über die Praxis seien falsch.
Schinas aber erweckt hier den Eindruck, seiner eigenen konservativen Regierung in die Hände zu arbeiten, indem er im Fall Belarus eine Bresche in das geltende Recht schlägt. Der jüngste Fall eines solchen illegalen Pushbacks in Griechenland machte jetzt Schlagzeilen in der New York Times und wirft einmal mehr ein Licht auf die Praxis griechischer Grenztruppen. So wurde ein afghanischer Übersetzer, der für die EU-Grenzagentur Frontex arbeitet, gewaltsam mit anderen Flüchtlingen zu einem abgelegenen Lagerhaus gebracht, wo etwa hundert Menschen, unter ihnen Frauen und Kinder, festgehalten wurden.
Sie seien dort geschlagen worden, mussten sich ausziehen und die Polizisten hätten ihnen Handys, Geld und Dokumente weggenommen, so wird berichtet. Der betroffene Übersetzer hält sich rechtmäßig in der EU auf. Migrationskommissarin Ylva Johansson sagte dazu, sie sei sehr besorgt über den Bericht in diesen Fall. Der Mann soll Beweise für seine Misshandlung und den Pushback durch die griechischen Behörden eingereicht haben, so schreibt die Zeitung. Jetzt müsse die Kommission sich mit der Praxis befassen, schlussfolgert das US-Blatt, die sie solange ignoriert habe.
Aber das scheint nicht sicher. Die neuen harten Töne aus der Brüsseler Behörde deuten eher auf einen Politikwechsel und eine nachträgliche Rechtfertigung der verbotenen Praxis, über die auch aus Kroatien oder Bulgarien schon berichtet wurde. Selbst die scharfe Kritik des UN-Flüchtlingskommissars bei seinem jüngsten Besuch im Europaparlament führte hier nicht zu einem Umdenken.