Kroatiens Justiz und der Fall Glavas
7. Dezember 2006Auch Kirchenvertreter solidarisch
Die Berichte über Olli Rehns Botschaften an das offizielle Zagreb waren kaum geschrieben, da forderte eine Gruppe von 19 Akademikern und vier Bischöfen die Entlassung von Branimir Glavas aus der Untersuchungshaft. "Die Art, wie man sich ihm gegenüber verhalten hat, war wirklich unmenschlich", erklärte Marin Srakic, Bischof von Djakovo-Srijem.
"Wenn ein Ministerpräsident Druck auf das Parlament ausüben kann, dann darf doch ein bescheidener Bischof sagen: ‚Ich bitte Euch, lasst diesen Mann frei, damit er sich aus der Freiheit heraus verteidigen kann’." Der Richter Zvonko Posavec entschied daraufhin, die Untersuchung gegen Glavas im so genannten "Garagenfall" wegen Folter und Ermordung serbischer Zivilisten in Osijek in den frühen 1990er Jahren zu unterbrechen und verfügte die Entlassung aus der Untersuchungshaft. Glavas’ war im Hungerstreik und der hatte seine Gesundheit angegriffen.
Kein Kommentar vom Premier und EU
Ministerpräsident Ivo Sanader wollte diese Entscheidung nicht kommentieren, obwohl man in Regierungskreisen bereits von einem Scheitern des Rechtstaates sprach. "Die Frage ist doch, ob wir in Kroatien wirklich eine Dreiteilung der Macht haben", sagte Sanader. "Ich habe mich bisher noch nie in die Arbeit der Justiz eingemischt und werde das auch in Zukunft nicht. Deshalb gebe ich auch keinen Kommentar ab." Präsident Stipe Mesic bemerkte dazu, dass alle, die die Untersuchung gegen Glavas mehr auf der Straße denn in den Gerichten geführt hätten, weder für Kroatien als Rechtsstaat noch für Glavas Gutes getan und durch die Politisierung des Falles Kroatien weiter weg von der EU-Integration hätten.
Olli Rehn hat erneut erklärt, die Türen der Union stünden für Kroatien bereits in einigen Jahren offen. Aber: Zuvor gebe es noch einige Schlüsselfragen zu lösen, darunter die der Justizreform und des Kampfes gegen die Korruption. Obwohl er den Fall Branimir Glavas nicht kommentieren wollte, betonte er, dass die Europäische Kommission insbesondere die Kriegsverbrecherprozesse verfolge.
Gefährlicher Präzedenzfall?
Die stellvertretende SDP-Vorsitzende Milanka Opacic brachte deutlich zum Ausdruck, worüber Rechtsexperten nur inoffiziell sprechen wollen - dass nämlich die Freilassung von Glavas den Rechtsstaat beschmutze. "Ich glaube, dass der Fall Glavas den wahren Zustand des kroatischen Rechtssystems zeigt. Ich glaube, dass wir von einem Präzedenzfall sprechen. Wie dieser sich auf den Rechtsstaat und die Rechtsprechung auswirken wird, das werden wir sehen", so Opacic.
Der SDP-Vorsitzende Ivica Racan schloss sich ebenfalls denen an, die es für einen gefährlichen Präzedenzfall halten, dass Glavas wegen eines Hungerstreiks aus der Haft entlassen wurde. "Diese Entscheidung des Ermittlungsrichters aus humanitären Gründen stellt das menschliche Leben in den Fokus. Der rechtliche Aspekt ist etwas komplizierter. Denn hier stellt sich die Frage, wie man in Zukunft mit ähnlichen Fällen umgehen will."
Staatsanwaltschaft in der Offensive
Ivan Siber, Professor für Politische Psychologie an der Fakultät für Politische Wissenschaften der Universität Zagreb, fragt sich, ob die Öffentlichkeit, die Bischöfe und die Akademiker genauso gehandelt hätten, wenn ein wegen Kriegsverbrechen angeklagter Serbe mit einem Hungerstreik versucht hätte, seine Freilassung zu erreichen. Und ob sich dann ein Richter gefunden hätte, der dieselbe Entscheidung getroffen hätte. Siber schlussfolgert: Dies sei kein Sieg von Glavas, aber das Rechtssystem sei sicherlich besiegt worden.
Und während man in Kroatien Videospots und Performances aufnimmt, die zeigen, wie Glavas den versammelten Osijekern vor seiner Aufnahme ins dortige Krankenhaus zuwinkt und wie ein Sarg mit der Aufschrift "Kroatischer Rechtsstaat" begraben wird, hat die Zagreber Staatsanwältin Visnja Loncar Einspruch eingelegt. "Unsere Haltung ist völlig anders als die des Gerichts, nämlich genau entgegengesetzt", sagte sie zur Begründung.
Schwächen der Justiz offengelegt
Der Fall Glavas hat von Anfang an alle Schwächen des kroatischen Justizwesens offenbart - besonders die bittere Tatsache, dass in Kroatien "revolutionäres Recht" in Kraft ist, das mit jener bemerkenswerten Behauptung beginnt, man könne in einem "Verteidigungskrieg" wie dem kroatischen keine Kriegsverbrechen begehen. Da Kroatien offenbar ein Land geworden ist, in dem ein Hungerstreik ein legitimes Mittel ist, um nicht vor Gericht Rechenschaft darüber ablegen zu müssen, was man im Krieg getan hat, dann – so politische Analysten – könne man auch jeder anderen Vorladung ruhiger entgegensehen.
Dann brauche man eigentlich auch seine Knöllchen wegen Verkehrsdelikten nicht mehr zu bezahlen, ebenso wenig die Stromrechnung, die Miete oder Fernsehgebühren. Anders ausgedrückt: Während sich die einen dem Rechtsstaat beugen müssen, können andere ihn verspotten. Ist man aber erst einmal vom Grundsatz der Gleichheit eines jeden Bürgers vor dem Gesetz abgewichen, dann steht die Tür für den Abriss des gesamten Systems offen.
Gordana Simonovic, Zagreb
DW-RADIO/Kroatisch, 7.12.2006, Fokus Ost-Südost