NRW: Stimmungstest für die Bundesregierung
15. Mai 2022Der Moderator des Landessenders WDR machte es kurz mit der ersten Hochrechnung um 18.00 Uhr: "CDU (Partei des bisherigen amtierenden Ministerpräsidenten Hendrik Wüst) 35,0 %, SPD (Partei des amtierenden Bundeskanzlers Olaf Scholz) 27,6 %, Grüne (Partei der jetzigen amtierenden Außenministerin Annalena Baerbock) 18,5 %, die AfD 6,0 %, die FDP (Partei des amtierenden Finanzministers Christian Lindner) 5,0 % muss noch bangen, ob sie wirklich in den Landtag einzieht." Gegenüber dem letzten Wahljahr 2017 bedeutet das für die CDU einen Zugewinn von 2 Prozent, für die SPD einen Verlust von 3,7 Prozent und für die Grünen einen deutlichen Zugewinn von rund 12 Prozent.
Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen gilt immer auch als kleine Bundestagswahl. Nicht nur hat das Land an Rhein und Ruhr mit 18 Millionen mit Abstand die meisten Einwohner von allen 16 Bundesländern, es spiegelt auch politisch, wirtschaftlich und sozial recht gut das ganze Deutschland wider.
Und so dürfte Bundeskanzler Olaf Scholz, der in Berlin zusammen mit den Grünen und der FDP regiert, das Ergebnis am Sonntagabend und in der kommenden Woche sehr genau analysieren. Speziell geht es um die Frage, wie die Wähler auf die Folgen des Ukraine-Kriegs und der Sanktionen der Bundesregierung gegen Russland reagieren, etwa den steilen Preisanstieg von Benzin, Gas und Lebensmitteln.
Früher, als Nordrhein-Westfalen noch von Bergbau und Schwerindustrie geprägt war, war das Land eine klassische SPD-Hochburg. Doch der Strukturwandel hat es nicht nur wirtschaftlich verändert, sondern auch politisch. Momentan regiert in der Landeshauptstadt Düsseldorf eine Koalition aus CDU und FDP unter dem CDU-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst. Der frühere Landesverkehrsminister ist allerdings nicht durch eine Wahl an die Macht gekommen, sondern hat das Amt von Armin Laschet übernommen, der nach seinem vergeblichen Versuch, Bundeskanzler zu werden, nicht mehr nach Düsseldorf zurückkehrte. CDU und SPD lagen in den jüngsten Umfragen mit je um die 30 Prozent etwa gleichauf, mit leichtem Vorsprung für die CDU.
Was die Menschen in Nordrhein-Westfalen derzeit bewegt, das bewegt auch die Deutschen insgesamt: "Der Krieg in der Ukraine und die Energieversorgung sind die wichtigsten Themen", sagt der Politikwissenschaftler Klaus Schubert von der Universität Münster der DW. Wobei in Nordrhein-Westfalen viele Menschen mit geringem Einkommen leben. Sie bekommen die deutlich gestiegenen Lebenshaltungskosten besonders zu spüren.
Rückenwind aus Berlin?
"Bei Landtagswahlen kommt es mehr auf den Spitzenkandidaten als auf die Partei an", sagt Schubert. Daher war das Rennen in Nordrhein-Westfalen in diesem Jahr länger offen." Hendrik Wüst regiert erst seit einem halben Jahr und konnte in so kurzer Zeit, so Schubert, "noch kein festes Image" aufbauen.
Wüst hoffte, dass ihm der Wahlsieg seines Parteifreundes Daniel Günther am vergangenen Sonntag in Schleswig-Holstein Rückenwind verschafft. Die CDU im Norden hatte mit mehr als 43 Prozent einen für heutige Verhältnisse außergewöhnlichen Sieg eingefahren.
Ob auch der CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz für Wüst ein Zugpferd war, ließ sich am Sonntagabend noch nicht beurteilen. Merz, Oppositionsführer im Bundestag, versuchte kurz vor der Landtagswahl, bei den Wählern zum Beispiel mit einer Reise nach Kiewzu punkten, als SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz noch nicht die Ukraine besuchen wollte.
Die CDU, so Merz, sollte wieder bundesweit "stabil über 30 Prozent liegen. Ich gebe den Anspruch, Volkspartei zu sein, nicht auf." Die Wahl in Nordrhein-Westfalen sei "eine wichtige Etappe auf dem Weg", sagte Merz kürzlich bei einer Wahlkampfveranstaltung in Bad Salzuflen. Bei der Bundestagswahl erreichte die Union aus CDU und CSU historisch niedrige 24 Prozent der Stimmen.
Für den Politikwissenschaftler Klaus Schubert war der Sieg der CDU bei der jetzigen Landtagswahl nicht ausgemacht. Die CDU spreche nicht genug das an, was die Menschen interessiere, wie Umwelt- und Sozialpolitik, Bildung und Mobilität.
Auf die Kleinen kam es an
Wüsts wichtigster Rivale war der SPD-Spitzenkandidat und frühere nordrhein-westfälische Justizminister Thomas Kutschaty. Kutschaty war im Wahlkampf immer wieder mit Bundeskanzler Olaf Scholz aufgetreten, eine durchaus zweischneidige Entscheidung. Zwar hoffte Kutschaty, dass der Kanzlerbonus auf ihn abstrahlt. Andererseits haftet Scholz seit Ausbruch des Ukraine-Krieges das Image des Zauderers an; seine Zustimmungswerte haben seitdem deutlich gelitten.
Wenn sich die beiden großen Parteien CDU und SPD bei der Landtagswahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen jeweils um die 30 Prozent lieferten, kam es besonders auf die kleineren Parteien an.
In den fünf Jahren als Juniorpartner der CDU haben die Freien Demokraten offenbar wenige Herzen erobert. Nach 12,6 Prozent 2017 sind sie in den Umfragen vor der Landtagswahl 2022 auf nur noch rund sieben Prozent abgesackt. Sie wollten vor allem in neue Technologien investieren, um die Wirtschaft nachhaltiger zu machen.
In der jetzt drohenden Energiekrise durch den Ukraine-Krieg haben sowohl CDU als auch SPD angedeutet, dass sie bereit sind, den für 2030 angestrebten Ausstieg aus der Braunkohle um mehrere Jahre zu verschieben. "Ich schalte nichts ab, ehe ich nicht andere Energiequellen habe", sagte Kutschaty kürzlich im WDR.
AfD stagniert
Die rechtspopulistische AfD flog vor einer Woche erstmals aus einem Landtag wieder heraus, als sie bei der Wahl in Schleswig-Holstein unter der Fünfprozenthürde blieb. In NRW sahen sie Umfragen bei rund sieben Prozent, leicht unter ihrem Stand der letzten Landtagswahl.
Martin Florack von der Universität Duisburg begründete das im Gespräch mit der DW unter anderem mit der "chronischen Nähe zu Russland", die die AfD auszeichne. Nordrhein-westfälische AfD-Abgeordnete sind sogar nach der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim dorthin gereist. Daher "dürfte es schwierig für die AfD werden, über ihre Kernwählerschaft hinaus Stimmen zu gewinnen", sagt Florack.
Noch deutlich schlechter sah es für die Linkspartei aus; sie dürfte erneut den Einzug in den Landtag verpassen, weil sie weniger als fünf Prozent der Stimmen bekommen dürfte, so die Wahlprognose.
Grüne Aufsteiger
Den größten Zuwachs dürften wohl die Grünen erleben. Vor fünf Jahren lagen sie bei 6,4 Prozent, jetzt nach Umfragen bei rund 17 Prozent. Tatsächlich kamen sie auf 18,5 Prozent.
"Die Grünen haben eine hervorragende Kommunikationsarbeit gemacht, vor allem gegenüber jüngeren Wählern", sagt Klaus Schubert. Dazu kommt, dass Hitzewellen, Brände und vor allem die verheerenden Überschwemmungen im vergangenen Sommer auch in Nordrhein-Westfalen ein großes Umwelt- und Klimathema waren, das "viele Wähler den Grünen nähergebracht" hat, so Schubert im Interview vor der NRW-Wahl.
Den Grünen könnte also eine Schlüsselrolle bei der Regierungsbildung zukommen. Doch welche Regierung wäre nach der Wahl am wahrscheinlichsten? "Auf Grundlage der aktuellen Umfragen im Vorfeld der Landtagswahl 2022 wäre eine Fortsetzung der schwarz-gelben Koalition nicht möglich", sagte Martin Florack. "Auch für ein rot-grünes Bündnis käme keine Mehrheit zustande. Denkbar wären derzeit eine große Koalition (CDU-SPD), ein schwarz-grünes Bündnis, Jamaika (schwarz-grün-gelb) oder eine Ampel." In den nächsten Tagen wird sich zeigen, für welches Koalitionsmodell sich Hendrik Wüst entscheiden wird.
Der Artikel wurde am Wahlabend um 19.00 Uhr aktualisiert.