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Lateinamerika: Warum "Systemgegner" erfolgreich sind

Emilia Rojas
27. August 2023

Mit Bernardo Arevalo in Guatemala und Javier Milei in Argentinien haben Kandidaten Wahlerfolge gefeiert, die sich als "Systemgegner" inszenieren. Dabei sind sie das gar nicht - und sie erfahren trotzdem so viel Zuspruch.

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 Buenos Aires Proteste gegen Regierung
Demonstranten protestieren in Buenos Aires gegen die Wirtschaftspolitik von Präsident Alberto FernandezBild: AGUSTIN MARCARIAN/REUTERS

"Wir sind nicht gegen das System, das System ist gegen uns", skandierten schon vor mehr als einem Jahrzehnt die "Indignados", die "Empörten" auf den Straßen von Madrid, als eine Wirtschaftskrise Spanien erschütterte. Sie protestierten gegen die Banken und gegen die Politiker. Eine ähnliche Welle des Unmuts - wenn auch mit anderen Schwerpunkten - rollt seit Jahren über Lateinamerika hinweg. Und fast überall gibt es Politiker, die auf ihr schwimmen, indem sie sich selbst als "antisistema" bezeichnen, als Gegner des herrschenden Systems.

Die jüngsten Beispiele sind Javier Milei und Bernardo Arevalo: Mit seinen libertären Thesen und Auftritten im Stile eines Rockstars bekam der Ökonom Milei bei den Präsidentschafts-Vorwahlen in Argentinien Mitte August fast ein Drittel der Stimmen und erzielte damit das beste Ergebnis aller Kandidaten. Aber da ist auch der eher gesetzte Soziologe Bernardo Arevalo, der sich sozialdemokratisch präsentiert und damit am vergangenen Wochenende zum Präsidenten von Guatemala gewählt worden ist, nachdem es den etablierten Parteien fast gelungen wäre, ihn von der Stichwahl auszuschließen.

Kaum jemand will das System abschaffen

"Man sagt vielen dieser Persönlichkeiten nach, sie seien gegen das System, weil sie keine Karriere als Berufspolitiker in einer Partei hinter sich haben", sagt der Sozialforscher Carlos Antonio Aguirre Rojas von der Autonomen Nationaluniversität von Mexiko (UNAM). Ideengeschichtlich beziehe sich der Begriff "antisistemico" jedoch auf Personen, die das kapitalistische System als Urgrund ihrer Probleme begriffen und dieses System zerstören und überwinden wollten.

Bernardo Arevalo im Anzug mit einem Mikrofon in der Hand
Der Soziologe Bernardo Arevalo hat einen Kampf gegen die Korruption versprochen und ist zum Präsidenten von Guatemala gewählt wordenBild: Moises Castillo/AP Photo/picture alliance

Dies treffe aber ebenso wenig auf Arevalo wie auf Milei zu. "Ich sehe in Arevalo einen Sozialdemokraten, der einen Kapitalismus will, der stärker von Institutionen und weniger von Korruption dominiert wird." Und auch die Ex-Präsidenten der USA und Brasiliens, Donald Trump und Jair Bolsonaro, seien keine Systemgegner, erklärt Aguirre Rojas. "Sie repräsentieren eine sehr anachronistische Rechte."

Es geht um einen Herrschaftswechsel

Auch der argentinische Politologe Andrés Malamud meint, viele Politiker in Lateinamerika würden fälschlicherweise als Systemgegner bezeichnet: "Diese Kandidaten sind nicht gegen die Demokratie, sondern gegen ihre Repräsentanten. Sie haben Erfolg, weil das System nicht funktioniert: Die Wirtschaft wächst nicht, die Kaufkraft stagniert und große Teile der Bevölkerung meinen, dass die Führungsklasse ihre Entbehrungen nicht kennt."

In Anlehnung an die "Sociedad de castas", die Kastengesellschaft während der spanischen Kolonialherrschaft, werden etablierten Politiker und ihre diversen Dunstkreise noch heute "politische Kaste" genannt. Und genau dieses Wort nutzt der argentinische Präsidentschaftskandidat Milei häufig, um sich auf die traditionellen Parteien zu beziehen, gegen die er wettert.

Javier Milei spricht mit energischem Gesichtsausdruck in Lederjacke in eine Mikrofon
Flammende Reden über die überbordende Macht des Staates sind Javier Mileis MarkenzeichenBild: Manuel Cortina/ZUMA Wire/IMAGO

Neben der Unzufriedenheit, die ein Nährboden für das Phänomen der sogenannten Systemgegner sei, meint der Politologe Andres Santana von der Autonomen Universität Madrid, komme hinzu: "In Lateinamerika ist es relativ einfach, eine neue Partei zu gründen, weil die Systeme der existierenden Parteien sehr schwach sind. Die Parteien ändern sich stark mit der Parteiführung."

"Es setzt sich immer stärker die Überzeugung durch, dass es sich bei Politik automatisch um unseriöse Machenschaften handle", meint Aguirre Rojas. Als die Demonstranten in Argentinien 2001 riefen: "Sie sollen alle abhauen!", hätten sie die gesamte politische Klasse gemeint. "Sie meinten Politiker der angeblichen Linken, Sozialdemokraten, die Rechten wie die Rechtsextremen. Ohne Unterschied."

Außenseiter-Erfolge offenbaren Probleme der Demokratie

Der Mexikaner sieht eine Krise der Politik selbst. Das zeige sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung in diversen Ländern: "Immer weniger Menschen glauben an die Politik und gehen deshalb nicht wählen. Deshalb können solche Außenseiter Wahlen ohne die Mehrheit aller möglichen Stimmen gewinnen", sagt Aguirre Rojas.

Eine Gefahr für die Demokratie sieht der Argentinier Malamud im Aufstieg der angeblichen Systemgegner nicht: "Die demokratische Stabilität leidet im Grunde nicht: Wenn diese Politiker scheitern, werden sie wieder abgewählt."

Auch der Mexikaner Aguirre Rojas sieht das Problem nicht in den, wie er betont, Anti-Establishment-Politikern: "Sie sind weniger eine Bedrohung für die Demokratie als ein Zeichen für die Krise, in der die liberale Demokratie steckt, weil sie sich immer weiter von der Realität der Menschen entfernt."

Aus dem Spanischen adaptiert von Jan D. Walter