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GesellschaftDeutschland

Leben in Ruinen und Baucontainern

Nadine Mena Michollek
19. Januar 2023

Gentrifizierung trifft Sinti und Roma oft doppelt so hart. Deutschlandweit werden sie aus ihren Wohnungen gedrängt oder müssen in verfallen Häusern oder in Baucontainern wohnen.

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Duisburg, Mai 2022: Betroffene kämpfen um ihre Wohnräume
Duisburg, Mai 2022: Betroffene kämpfen um ihre WohnräumeBild: Solidarische Gesellschaft der Vielen

Ganze zwanzig Minuten hatte ihre Familie, um die Habseligkeiten zu packen. Dann mussten sie ihre Wohnung verlassen. Von jetzt auf gleich. Als die siebzehnjährige Roxana aus der Schule kommt, stehen ihre Eltern und sechs Geschwister schon auf der Straße. Sie wissen nicht wohin, ob sie vielleicht sogar auf der Straße schlafen müssen. Das Bauordnungsamt Duisburg hat das komplette Wohnhaus geräumt. Der Grund: Bauliche Mängel.

Panisch ruft Roxanas Familie Verwandte und Freunde an, sucht eine Unterbringung. Ein Onkel sagt, dass sie vorerst bei ihm in Berlin wohnen können. Drei Monate sind sie dort. So lange musste Roxana ihre Ausbildung als Kinderpflegerin unterbrechen. Erst dann fanden sie und ihre Familie eine neue Wohnung in Duisburg. 

Hausräumungen sind in Duisburg keine Einzelfälle

Solche Räumungen gibt es öfter in Duisburg. Dort gibt es die sogenannte Taskforce "Problemimmobilien", die Wohnhäuser auf bauliche Mängel überprüft. Praktisch läuft das oft so ab: Morgens findet eine Hausbegehung statt, mittags kommt das Ergebnis, es bestehe Gefahr für Leib und Leben, und dann steht die Taskforce schon mit blauen Müllsäcken zum Packen bereit. Allein im letzten Jahr sollen mehr als 500 Menschen von diesen Räumungen betroffen gewesen sein, sagt Lena Wiese vom Verein "Solidarische Gesellschaft der Vielen e. V.", der die Betroffenen unterstützt. Meist treffen die Räumungen Menschen aus Rumänien und Bulgarien, oft Roma. Roxanas Familie migrierte auch aus Rumänien, ihre Mutter ist Romni.

Der Verein Solidarische Gesellschaft der Vielen unterstützt die Betroffenen
Der Verein Solidarische Gesellschaft der Vielen unterstützt die Betroffenen im Kampf gegen RäumungenBild: Solidarische Gesellschaft der Vielen

Die geräumten Menschen stehen dann häufig auf der Straße, wissen nicht wohin sie sollen, sagt Wiese. Zwar biete die Stadt Notunterkünfte, allerdings lägen diese meist am äußersten Stadtrand. Kinder könnten so schwer ihre Schule erreichen. Außerdem seien die Unterkünfte oft nicht für Familien mit mehreren Kindern geeignet. Es handle sich um Container, in denen es pro Zimmer nur zwei Etagenbetten gebe, so Wiese.

Rassismus macht Wohnungssuche schwer

Bis die Betroffenen etwas Neues finden, kann es dauern. Rassismus mache es schwer. Roxana erzählt: "Sobald die Vermieter erfahren, dass wir aus Rumänien kommen, wollen sie die Wohnung nicht mehr vermieten. Sie sagen, wir würden unsere Miete nicht zahlen - und stehlen."

In Dortmund gab es lange Zeit ähnliche Hausräumungen wie in Duisburg, doch mittlerweile geht die Stadt anders mit sogenannten "Problemimmobilien" um. Lokale Vereine haben gemeinsam mit der Stadt Dortmund nach Lösungen gesucht. Werden an einem Haus bauliche Mängel festgestellt, werden diese entweder behoben oder es werden im Vorfeld neue Wohnungen gefunden, so dass die Menschen nicht plötzlich auf der Straße stehen.

Vereine und Wissenschaftler werfen Duisburg Rassismus vor

Die Stadt Duisburg sagt, so ein Vorgehen sei bei gravierenden Mängeln nicht möglich, da bei Gefahr für Leib und Leben umgehend gehandelt werden müsse. Wiese wirft der Stadt Duisburg Rassismus vor, weil die Räumungen vor allem Menschen aus Rumänien und Bulgarien treffen, darunter viele Roma. Die Unabhängige Kommission Antiziganismus, die von 2019-2021 die Situation der Sinti und Roma in Deutschland untersucht hat, spricht ebenfalls von institutionellem Rassismus.

Lena Wiese
Lena Wiese vom Verein Solidarische Gesellschaft der VielenBild: Solidarische Gesellschaft der Vielen

Verschiedene wissenschaftliche Studien zu Duisburg weisen darauf hin. So geben der Ethnologe Max Matter und der Sozialforscher Joachim Krauß an, Vertreter der Duisburger Stadtverwaltung hätten in Netzwerkkonferenzen zum Umgang mit Neu-Bürgern aus Rumänien und Bulgarien offen darüber gesprochen, dass es darum gehe, "für die Betroffenen die Atmosphäre so ungünstig zu gestalten, dass diese die Stadt verlassen". Die Stadt Duisburg weist diese Vorwürfe entschieden zurück und erklärt, sie würde alle Menschen gleichbehandeln. 

Auch in anderen Städten werden Roma aus ihren Wohnorten gedrängt

Duisburg ist kein Einzelfall. Auch in anderen Städten verlieren Roma ihre Wohnungen. Der Aktivist David Paraschiv, der gerade eine Ausbildung zum Erzieher macht, lebte im beliebten Berliner Stadtteil Friedrichshain. Das Haus, ein braun-grauer Wohnblock, in dem er mit vielen anderen Romafamilien aus Rumänien wohnte, steht mittlerweile leer. Fenster wurden herausgerissen, Eingänge mit Holzbrettern verbarrikadiert, mit Graffiti besprüht. Lange Zeit hatten er und seine Familie Sorge, auf der Straße zu enden: "Mein Vater hatte total Angst. In dem Block wurde schon alles abgerissen, als er noch dort lebte: Sie räumten die Zimmer aus, rissen die Fenster raus. Es sah schrecklich aus. Wir hatten Angst, nicht schnell genug eine neue Wohnung zu finden." 

David Paraschiv verlor seine Wohnung in Berlin-Friedrichshain
David Paraschiv hat seine Wohnung in Berlin-Friedrichshain verlorenBild: Wir sind hier/Foto: Annemie Martin

Hier waren es die Vermieter, die die Bewohner loswerden wollten. Mit Kontowechseln und anderen Tricks sorgten sie dafür, dass die Mieter in Zahlungsrückstand gerieten, so die Tageszeitung (taz). Das habe dann zu Räumungsurteilen geführt. Die Räumung konnte kurz vorher noch verhindert werden. Dennoch mussten alle Mieter das Haus schnellstmöglich verlassen. David hat mittlerweile eine Wohnung, lebt aber jetzt im Bezirk Marzahn-Hellersdorf, fährt über eine Stunde zu seiner Ausbildungsstelle und zum Verein "Roma Trial e. V.", in dem er sich engagiert. 

Vermieter nutzen Lage der Roma aus

Vermieter nutzen die schwierige Lage der Roma oft aus. Sie lassen die Menschen in heruntergekommen Häusern leben, mit Schimmel an den Wänden, reparieren keine Schäden. Das erlebt auch die 21-jährige Berlinerin und Romni Maria. Ihre Familie ist auch aus Rumänien. Ihren echten Namen möchte sie lieber nicht preisgeben - zu groß ist die Angst, aus der Wohnung geworfen zu werden. Sie hat vor kurzem Abitur gemacht, möchte bald studieren.

Berliner Stadtteil Friedrichshain
Alle Bewohner mussten aus diesem Wohnblock in Berlin-Friedrichshain ausziehenBild: Alexander Rönisch

Doch unter ihrer Wohnsituation leidet sie. Der Vermieter kümmere sich nicht: Defekte in der Elektrik, so dass es Brände gegeben habe; die Haustür könne nicht geschlossen werden, daher schliefen oft obdachlose Menschen in den Fluren, der Müll häufe sich dort. Auch habe der Vermieter häufig Müll im Hinterhof abgeliefert, den er wochenlang nicht abholte. "Man fühlt sich einfach nicht zuhause. Die Wohnsituation schlägt auf die Psyche. Viele würden sehr viel geben, um woanders zu leben", sagt Maria. Ihr Wohnhaus war schon oft in den Medien: "Manchmal fühlt man sich wie in einem Zoo. Die Presse ist meist gegen uns: Wir sind die Bösen, die die Nachbarn stören. Die Realität wird nicht gezeigt - dass wir ausgenutzt werden und unter unmenschlichen Bedingungen leben."

Auch Sinti-Community leidet unter schlechten Wohnbedingungen

Sinti leben schon seit mehr als 500 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands. Doch auch Mitglieder dieser Community müssen oft in sanierungsbedürftigen Siedlungen wohnen. In Köln beispielsweise waren Häuser so verfallen, dass viele Bewohner wegziehen mussten. Andere haben nicht einmal Häuser. Die Familie der Sintiza Jasmin Mettbach lebt in Duisburg nur in Baucontainern.

Jasmin Mettbach
Die Sintiza Jasmin Mettbach darf nicht mehr in die Siedlung zu ihrer Großmutter ziehen, um sie zu pflegenBild: privat

Der Ursprung der schlechten Wohnsituation findet sich in der Nachkriegszeit. Die NS-Verfolgung der Sinti und Roma wurde lange nicht anerkannt, der Rassismus setzte sich nach 1945 fort. Die Überlebenden der Todeslager hatten durch die Nazis alles verloren. Statt Hilfe zu erhalten wurden sie jedoch an den Rand der Städte in Elendsviertel gedrängt. Dort mussten sie teilweise bis 1975 in alten Bussen und Bahnwaggons leben.

An manchen Orten wollen die Kommunen jetzt, dass Sinti die Siedlungen verlassen, so zum Beispiel in Baden-Württemberg. Auch Jasmin macht sich Sorgen: "Wir haben ständig Angst, wir sind mit Angst groß geworden. Unser Platz wurde schon zwei Mal von heute auf morgen geräumt."

Es gibt zwar aktuell keine Pläne, den Platz in Duisburg zu räumen. Allerdings gibt es eine Regelung, dass keine Sinti zuziehen dürfen, keine weiteren Baucontainer mehr zur Verfügung gestellt werden. Das heißt, sobald die Kinder erwachsen sind und ausziehen wollen, müssen sie wegziehen. Der Platz stirbt dann quasi von selbst aus. Jasmin möchte zurück, um ihre Großmutter - eine NS-Überlebende - zu pflegen, aber die Stadt Duisburg erlaubt das nicht. 

"Ich wünsche mir eigentlich nur, dass unser Platz erhalten bleibt, dass wir ihn als jüngere Generation weiterführen können und unser Leben leben dürfen", sagt Jasmin.