Neuer Roman von Jonathan Franzen: "Unschuld"
4. September 2015Jonathan Franzen spricht ausgezeichnet deutsch: In den 1980er Jahren hat er in Deutschland gelebt und in West-Berlin an der Freien Universität studiert. Auch später ist er immer wieder hierhin zurückgekehrt, hat das Land für Buchvorstellungen und Diskussionen, Lesungen und Studienaufenthalte besucht. In einigen seiner essayistischen Bücher hat er sich bereits mit Deutschland und deutscher Kultur beschäftigt.
Seine großen Romane - "Korrekturen" (2001) und vor allem "Freiheit" (2009) -, mit denen der Amerikaner berühmt und erfolgreich wurde, sind dagegen "amerikanische Romane". Sie handeln von Familien im Mittleren Westen, sezieren die Befindlichkeiten ihrer Charaktere in den USA der letzten Jahrzehnte.
Franzens neue literarische Orte
Franzens neuer Roman "Purity", dem der deutsche Verlag den Titel "Unschuld" mit auf den Weg gegeben hat, ist nun der erste große Prosatext, in dem es nicht nur um die Heimat des Schriftstellers geht. "Unschuld" spielt zu großen Teilen in Deutschland, und zwar in der DDR der Vorwendezeit. Weitere Schauplätze sind: Texas und New York, Kalifornien und der bolivianische Dschungel.
In sieben umfangreichen Kapiteln, die alleine fast schon romanhafte Ausmaße annehmen - "Unschuld" hat insgesamt 830 Seiten - stellt Franzen dem Leser ein halbes Dutzend Charaktere vor. Da ist vor allem die titelgebende Purity Tyler, genannt Pip, eine junge Frau, die im amerikanischen Oakland in bescheidenen Verhältnissen in einer Wohngemeinschaft lebt und ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter pflegt.
Dann lernen wir Andreas Wolf kennen - der Roman springt hier zurück in die DDR der 1980er Jahre -, einen jungen Mann aus privilegiert-staatsnahem Elternhaus, der sich zum Dissidenten und charismatischen Frauenverführer wandelt. Viele Jahre später wird aus ihm ein berühmter Whistleblower, der im bolivianischen Exil eine Art WikiLeaks-Projekt betreibt und dem Mitarbeiter und Fans, weibliche vor allem, in sektenartiger Verbundenheit zu Füßen liegen.
Und schließlich ist da der US-Journalist Tom Aberant, der mit einem geerbtem 20 Millionen-Dollar-Vermögen ein unabhängiges journalistisches Portal aufgebaut hat. Tom lebt mit einer Frau zusammen, die wiederum mit einem gelähmten Schriftsteller verheiratet ist, den sie immer noch pflegt. Sie pendelt gewissermaßen zwischen beiden Männern hin- und her.
Literarische Figuren, die dem Leser am Herzen liegen
Hinzu kommen eine ganze Reihe von Nebenfiguren, die im Kosmos des Jonathan Franzen wichtige Rollen ausfüllen. Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Wohl aber, dass die Haupt- und Nebencharaktere im Laufe des komplex entwickelten Handlungsgerüsts miteinander in Berührung kommen, beruflich wie privat. Dass sich dabei für den Leser immer wieder neue überraschende Konstellationen ergeben, macht einen Reiz dieses voluminösen Romans aus.
Franzen dringt tief ein in die Vorwendezeit der DDR, fängt die Stimmung der 1980er Jahre in Ost-Berlin und Leipzig überzeugend ein. Diese Passagen, die zu den stärksten im Buch gehören, dürften den geschulten Leser auch an Romane deutscher Autoren mit ähnlicher Thematik erinnern. Nur aus der Ferne hätte dem so sehr an Deutschland interessierten Franzen diese atmosphärische Dichte kaum gelingen können: Man merkt dem Buch an, dass der Autor bestens vertraut ist mit Orten, Geschehnissen und den Hauptakteuren, die sich in der DDR gegenüberstanden.
Jonathan Franzen: Meister der Charakterentwicklung
In scharfem geografischen und zeitlichen Kontrast dazu stehen die amerikanischen Kapitel. Hier betritt der Leser vertrautes Franzen-Land, liest von Familienränken und tiefen Zerwürfnissen innerhalb amerikanischer Familien, von zerrütteten Beziehungen, von komplexen psychologischen Verwerfungen zwischen Kindern und Eltern.
Hier wie dort gilt: Wo Franzen ganz nah bei seinen literarischen Figuren bleibt, wo er mit langen Dialogpassagen tief in die Köpfe seiner Protagonisten eintaucht, wo er literarische Charaktere zum Leben erweckt, mit denen der Leser über viele hundert Seiten mit fiebert, da ist Franzen am stärksten. Dass viele Kritiker den 1959 in der Nähe von Chicago geborenen Franzen für den größten lebenden US-Schriftsteller halten, kann man beim Lesen dieser Passagen nachvollziehen.
Unschuld: Klassische Erzählkunst
Und doch ist jedes Schriftsteller-Ranking fehl am Platz: Jonathan Franzen ist und bleibt ein vornehmlich konventioneller Erzähler, der stilistisch an Traditionen des 19. Jahrhunderts anknüpft, - nicht zufällig heißt seine Hauptfigur Pip, ganz so wie die Hauptfigur in "Hohe Erwartungen" von Charles Dickens, den Franzen verehrt. Leser, die auch von großen Gesellschaftsromanen Experimentierfreude und stilistische Experimente erwarten, werden indes von "Purity" enttäuscht sein.
Allerdings zeigt sich Franzen einmal mehr als Meister komplexer Roman-Dramaturgie, wenn er mit zunehmendem Handlungsverlauf seine beiden großen Erzählwelten verzahnt, Schicht um Schicht hinzufügt und die einzelnen Stränge ineinander laufen lässt.
Internet-Zeitalter kritisch unter die Lupe genommen
Außerdem ist Franzen seit Jahren ein interessierter, wacher und kritischer Zeitgenosse, der Anteil nimmt an den Zeitläufen. Immer wieder hat er sich in den Vergangenheit zu aktuellen Entwicklungen in der Welt geäußert, zu den verschiedensten Themen, als da wären: die weltweite Umweltzerstörung, der digitale Wandel mit den Veränderungen menschlicher Kommunikation, mit dem Internet im Allgemeinen und dem Journalismus zwischen Tradition, auf Papier und Moderne, im Netz im Speziellen. "Es war, als bestünde die einzige Aufgabe, die noch einen Sinn hatte, in der Suchmaschinenoptimierung", so etwa ein Kommentar Franzens in "Unheil" zu den Entwicklungen im Journalismus.
Phantastische Gleichung: Sozialismus = Internet
Mit diesen Themen überzieht Franzen seinen neuen Roman, lässt die Figuren immer wieder hervortreten und zu Sprachrohren der eigenen Sichtweise werden. Das gelingt oft, indes nicht immer elegant. Bei manchen Passagen hat man den Eindruck - unabhängig, ob man die Meinung Franzens teilt oder nicht -, hier habe der Essayist dem Romanschriftsteller im Wege gestanden. Zum Glück siegt am Ende meist der Erzähler Franzen.
Und manchmal sind die Ansichten, die der Autor bzw. seine literarischen Charaktere zum Besten geben, ja auch wahrlich originell. Wenn er zum Beispiel den kühnen Vergleich zieht zwischen alter und neuer Welt, zwischen DDR und Internet: "Ersetzt man Sozialismus durch Netzwerke, hatte man das Internet." Manche Leser werden darüber nur den Kopf schütteln. Aber über die steile These lohnt es sich ja mal nachzudenken.
Jonathan Franzen: Unschuld, ins Deutsche übersetzt von Bettina Abarbanell und ike Schönfeld, Rowohlt Verlag 2015, 830 Seiten, ISBN 9783498021375