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Frühtest für Kinder mit Legasthenie

Gudrun Heise
13. Februar 2018

Je eher Legasthenie bei einem Kind erkannt wird, umso früher kann die Förderung beginnen. Ein Hirn-Scan soll dabei helfen, das herauszufinden. Klar ist: Mit mangelnder Intelligenz hat Legasthenie nichts zu tun.

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Symbolbild - Legasthenie
Bild: picture alliance/dpa

Albert Einstein, Bill Gates, Ernest Hemingway oder auch Charles Darwin sind unbestritten alle hochintelligent, und alle waren beziehungsweise sind Legastheniker. Die Liste ließe sich noch beliebig verlängern. Kinder mit Legasthenie sind also in bester Gesellschaft.

Hinter die Stirn geschaut

Forscher des Max-Planck-Instituts in Leipzig wollen den Zusammenhängen von Gehirnentwicklung und Lernentwicklung auf die Spur kommen. Ziel des Projektes ist es, möglichst früh und eindeutig herauszufinden, ob ein Kind Legastheniker ist oder werden könnte oder nicht. Dazu setzen die Wissenschaftler Hirn-Scans ein. 

So können sie auch Kinder im Vorschulalter testen, die noch gar nicht schreiben und lesen können und bei denen die gängigen Untersuchungen nicht funktionieren würden. Insgesamt waren mehr als 140 Kinder an dem Projekt beteiligt.

"Wir haben gesehen, dass Kinder mit einer Lern- und Schreibstörung schon sehr früh, schon bevor sie in die Schule kommen, bestimmte, anatomische Auffälligkeiten zeigen. Möglicherweise ist das schon direkt nach der Geburt so oder sogar pränatal", sagt Michael Skeide. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.

Wenn die Wissenschaftler den Kindern ins Gehirn sehen, können sie die Wirkung der vererbten Risikogene mit hoher Treffsicherheit erkennen. Die Quote liegt bei etwa 75 Prozent.

Auffälligkeiten im Gehirn

Die Wissenschaftler haben MRT-Aufnahmen (Magnetresonanztherapie) der Kinder gemacht. "Mithilfe der Hirn-Scans können wir uns die Entwicklung der Großhirnrinde anschauen, also die äußere Schicht unseres Gehirns", erklärt Skeide. 

In der Großhirnrinde gebe es Hügel und Täler mit einem ganz bestimmten Muster. "Mit dem MRT können wir zeigen, dass diese Oberfläche auf der Großhirnrinde durcheinander geraten ist. Das ist eine Hirnauffälligkeit, die bei Legasthenikern vorliegt", so der Forscher.

Hinzu kommt, dass Legasthenie auch genetisch bedingt sein kann. Experten gehen davon aus, dass 50 bis 70 Prozent der Fälle von Legasthenie durch genetische Faktoren erklärt werden können. "Wenn die Gene nicht hundertprozentig aktiv sind, bringen sie das Wachsen der einzelnen Schichten durcheinander und können den Nervenzellen nicht mehr signalisieren, wo sie in der Großhirnrinde genau hinwandern sollen."

Symbolbild Legasthenie
Legastheniker verwechseln oft Buchstaben Bild: picture alliance/dpa

Daten schon im Vorschulalter

Für Skeide ist eines der wichtigsten Ergebnisse der MRT-Untersuchungen, dass es möglich ist, die Daten des Gehirns schon im Kindergartenalter sammeln zu können, ohne Schreibtests machen zu müssen. Bei diesen herkömmlichen Tests müssen die Kinder bestimmte Leseaufgaben lösen oder ein Diktat schreiben.

Für jede Altersgruppe gibt es einen Normwert, der die durchschnittliche Leistung beim Lesen und Schreiben festlegt. Diese Tests laufen ähnlich ab wie Intelligenztests. Beispiel: 100 bis 85 Punkte stehen für eine durchschnittliche Leistung. Alles, was unter 85 Punkten liegt, ist dann ein Kriterium für Legasthenie.

Ideal sei die Kombination beider Verfahren. ."Wenn Sie nur diesen Verhaltenstest machen, dann erwischen Sie nicht mal 50 Prozent der Kinder, die später einmal wirklich Probleme haben werden. Wenn Sie diese Tests kombinieren mit MRT-Aufnahmen, dann verbessert sich das Ergebnis, von 50 Prozent auf 90 Prozent. Deswegen betreiben wir diesen Aufwand."

Je früher, desto besser

Legasthenie wird bei den meisten Kindern erst erkannt, wenn es zu spät ist und sie bereits in der Schule sind, also gegen Ende der zweiten Klasse. Je früher ein Förderprogramm beginnt, desto einfacher kommen Experten an die Ursachen der Legasthenie heran, denn umso sensibler sind die Systeme im Gehirn dann noch. Wenn ein Kind schon früh bestimmte Kompensationsstrategien lernt, hat es auf längere Sicht bessere Möglichkeiten, mit den Defiziten klar zu kommen und sie auszugleichen. Zusätzliche Ressourcen im Gehirn können so besser frei gemacht werden. Die Regionen, die Defizite haben, könnten effizienter mit anderen Bereichen des Gehirns vernetzt werden," so Skeide. 

Symbolbild | Schule Unterricht Schulklasse Schüler
Kinder mit einer Rechtschreib-Leseschwäche haben es in der Schule oft schwerBild: imago/photothek/F. Gaertner

Hans oder Haus?

In Deutschland hat etwa jedes 20. Kind eine Lese- Rechtschreibschwäche. Ein wesentliches Kriterium, sie bei einem Kind erkennen zu können, ist auch die sogenannte phonologische Bewusstheit. "Das ist das Verständnis dafür, dass sich sprachliche Laute unterschiedlich anhören. Nur wenn sich die Kinder dessen bewusst sind, können sie lernen, dass jeder einzelne Sprachlaut einem anderen Buchstaben zugordnet wird", erläutert Skeide.

Gerade bei dieser Unterscheidung haben Kinder mit Legasthenie Schwierigkeiten. Legastheniker ordnen die Buchstaben nicht den entsprechenden Lauten zu, sie lassen beim Schreiben Buchstaben weg oder vertauschen sie. Kinder sind nicht selten Hänseleien ausgesetzt. In der Schule leiden sie oft an Misserfolgen. Bei ihren Mitmenschen stoßen sie oft auf Unverständnis. 

Der Idealfall

Skeide ist der Ansicht, dass eine Kombination von Hirn-Scan und Schreibtests ein guter Ansatz für eine frühe Erkennung der Legasthenie bei Kindern wäre. "Die Vorhersagekraft ist dann einfach besser und genauer", so Skeide überzeugt. "Was wir machen, ist ja erst einmal Grundlagenforschung."

Jetzt muss noch ein zweiter, ein gewaltiger Schritt folgen. Die Theorie muss in die Praxis umgesetzt werden und beide Verfahren miteinander verbunden werden. "Das wird aber noch dauern", glaubt der Wissenschaftler. "Wir haben die Vorarbeit geleistet. Im nächsten Schritt müssen wir zeigen, dass es wirklich auch in der Praxis funktioniert."