Lesen lernen mit dem persönlichen Mentor
13. April 2019Der Text geht der jungen Lina leicht über die Lippen, zügig liest sie die Sätze. Es geht um den Frühling, um die sprießende Natur, das Grün, das sich allerorts entfaltet. Der Schnee ist geschmolzen und es ist an der Zeit, dass die Pflanzen … wie lautet doch gleich das richtige Wort: "auftauchen"? Nicht ganz. "Auftauen" heißt es, erklärt Mentorin Karen Gartner, im Hauptberuf Bankfachwirtin, ihrer Schülerin und spricht mit ihr über die erblühende Natur.
Lesen, zeigt die kleine Szene, die der gemeinnützige Verein der Leselernhelfer Mentor auf seiner Homepage veröffentlicht, ist mehr als nur die Kunst, Worte und Sätze zu entziffern. Lesen ist viel mehr.
"Lesen heißt auch, Texten Informationen zu entnehmen", sagt Margret Schaaf, Vorsitzende des Mentor-Bundesverbandes, im Gespräch mit der DW. "Lesen bedeutet, Informationen zusammenzufügen und die Inhalte von Texten zu verstehen. Den Kindern das beizubringen, ist unser wesentliches Anliegen."
Ein Fünftel aller Schüler liest schlecht
Mentor wurde im Jahr 2003 gegründet. Damals bemerkte der Hannoveraner Buchhändler Otto Stender, dass eine ganze Reihe von Kindern Schwierigkeiten hatte, dem Leseunterricht in der Grundschule zu folgen. So luden er und seine Frau zwei Kinder ein, zusammen mit ihnen zu lesen - die Geburtsstunde von Mentor. Seitdem ist der Verein kontinuierlich gewachsen, derzeit engagieren sich bundesweit rund 11.500 ehrenamtliche Lesehelferinnen und Lesehelfer unter seinem Dach.
Die Helfer haben viel zu tun. Die jüngste Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) vom Dezember 2017 brachte es ans Licht: Ein Fünftel aller Zehnjährigen in Deutschland kann nicht sinnerfassend lesen. Damit ist Deutschland im internationalen Ranking weit zurückgefallen, nämlich von Platz fünf im Jahr 2001 auf Platz 21 fünfzehn Jahre später. Das bedeutet zwar nicht, dass die in Deutschland lebenden Kinder nun deutlich schlechter lesen. Stattdessen haben andere Länder - etwa Lettland, Ungarn oder Litauen - so viel in die Lesefähigkeit ihres Nachwuchses investiert, dass der besser abschneidet. Aber es zeigt: Leseschwäche ist kein Schicksal.
Wird den Sprösslingen jedoch nicht geholfen, drohten ihnen Nachteile für das ganze Leben, sagt Margret Schaaf. "Jungen Menschen fehlt damit eine grundlegende Fähigkeit, um in der modernen Welt zu bestehen." Mangelnde Lesefähigkeiten führten zunächst zu schlechten Noten in der Schule, letztlich aber weit darüber hinaus. "Wer nicht lesen kann, hat keinen Zugang zu Texten und zu Büchern. Er versteht sie nicht. Damit hat er in keinem Fach mehr eine Chance. Das setzt sich dann im späteren Leben fort. Menschen, die am modernen Informationsfluss nicht teilhaben, verlieren in vielerlei Hinsicht den Anschluss. Das beunruhigt uns und das treibt uns."
Schulen setzen auf individuelle Hilfe durch Mentoren
Je nach den Voraussetzungen der Schüler setzen die Mentoren auf ganz unterschiedlichem Niveau an. "Einige brauchen Hilfe, Buchstaben hintereinander zu lesen und zu ganzen Wörtern zusammenzusetzen", so Schaaf. Solche Kinder bräuchten sehr viel Training, damit ihre Kraft irgendwann nicht nur in das reine Lesen gehe, sondern sie sich auch mit den inhaltlichen Aspekten eines Textes auseinandersetzen könnten. "Diese Kinder brauchen vor allem Unterstützung beim Verstehen von Wörtern und Texten. Sie müssen lernen, Texten Informationen zu entnehmen und sie zusammenzufügen. Erst dann erschließt sich ihr Inhalt."
Trotz der vielen ehrenamtlichen Lesehelfer reicht ihre Zahl nicht, so Margret Schaaf. Denn gleichzeitig sei an vielen Schulen die Leseförderung zurückgefahren worden. Zudem hätten Schulen mit der Integration und Inklusion oft neue Aufgaben übernommen - ohne dass sie dafür personell und materiell hinreichend ausgestattet worden seien. Eine Rolle spielten auch neue Formen des Freizeitverhaltens, insbesondere das Surfen im Internet. "All das führt dazu, dass wir in den Schulen immer wieder von Lehrern angesprochen werden, die uns fragen, ob wir nicht noch weitere Mentoren hätten."
Die Mentoren betreuen allerdings keine Schülergruppen. Sie arbeiten jeweils nur mit einem Kind. "Unsere Mentoren treffen dieses Kind dann jede Woche für eine Schulstunde", so Schaaf. "Besser wären zwar zwei Schulstunden, aber das ist schwer realisierbar." Entscheidend sei, die Kinder regelmäßig zu betreuen. "Es kommt auf die Beständigkeit an. Es ist sehr wichtig, dass man für das Kind dauerhaft ansprechbar ist. Denn nur so erlebt das Kind Aufmerksamkeit und Zuwendung in einer Weise, die es für das Lernen öffnet, und zwar nicht unbedingt nur des Lesens."
Ein Ehrenamt, viele Gründe
In vielen Ländern engagierten sich Lesehelfer, sagt Margret Schaaf. "Schließlich gibt es weltweit Kinder, die Probleme mit der Sprache und mit dem Lesen haben. Von daher sehe ich im Grunde überall die Notwendigkeit, Kindern die Möglichkeit zu geben, Zugang zu Bildung zu bekommen, und zwar insbesondere dann, wenn er nicht über die Schule gewährleistet werden kann."
In Deutschland will Mentor noch viele freiwillige Lesehelfer gewinnen. "Für meine Begriffe", sagt Schaaf, "gibt es keine Gründe, ein solches Ehrenamt abzulehnen. Denn es ist sehr überschaubar - und zudem erfüllend."