LGBTQ in Russland: Das Ende des Regenbogens
16. Dezember 2023"My Little Pony" ist nichts mehr für Kinder. In Russland hat die Online-Filmdatenbank "Kinopoisk" den Zeichentrickfilm nun als "FSK 18" eingestuft. Zu den Gründen äußert sich "Kinopoisk" nicht offiziell, sie sind aber offensichtlich: Die Hauptfigur, das Pony Rainbow Dash, besitzt Schweif und Mähne in Regenbogenfarben - dieselben Farben, die auch die Rechte der LGBTQ-Bewegung symbolisieren.
Dies ist nur eine von zahlreichen Maßnahmen, die ergriffen wurden, seit der Oberste Gerichtshof in Russland die internationale LGBTQ-Bewegung Ende November als "extremistisch" eingestuft hatte. Obwohl das Gesetz erst am 10. Januar in Kraft tritt und daher noch niemand strafrechtlich verfolgt werden kann, fanden nur einen Tag nach der Verkündung Razzien in mindestens drei LGBTQ-freundlichen Clubs und Saunen in Moskau statt. Ein Besucher eines dieser Clubs, der anonym bleiben möchte, berichtet im DW-Interview davon, was er erlebt hat: "Die Polizisten kamen und verschlossen die Tür, so dass niemand mehr den Club verlassen konnte. Als Grund gaben sie an, dass sie nach Drogen suchten. Wir mussten uns alle mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legen. Sie haben nichts gefunden, aber alle unsere Personalien aufgenommen und unsere Pässe fotografiert." Die russischen Behörden haben sich bislang nicht zu den Razzien geäußert. Auch in den staatlichen Medien war weder von routinemäßigen Drogen- noch von anderen Razzien die Rede.
Ihre Wirkung auf die LGBTQ-Community verfehlen die Aktionen nicht. "Niemand von uns kann mehr in Frieden leben," schreibt einer der Clubbesucher in einem Onlinechat, "wir wandeln ständig auf einem schmalen Grat zwischen 'Propaganda' und 'Extremismus'." Ein anderer antwortet, dass es ihm zu gefährlich geworden sei und er deshalb keine Clubs mehr besuchen wolle.
Verfolgung schlimmer als je zuvor?
"Es wird eine neue Grenze überschritten", erklärt die Feministin und LGBTQ-Aktivistin Regina Dzugkoeva. "Durchsuchungen, das Fotografieren von Pässen, Einschüchterungen gab es auch früher schon. Aber diese Maßnahmen waren meist gegen Organisationen und Aktivisten gerichtet, nicht gegen einfache LGBTQs in Russland".
Die LGBTQ-Community sieht sich schon seit Jahrzehnten einer immer strengeren Verfolgung ausgesetzt. 2013 trat ein Gesetz zum Verbot der Verbreitung so genannter LGBTQ-"Propaganda" an Minderjährige in Kraft; Ende 2022 wurde dieses auf alle Altersgruppen ausgeweitet. Zur "Propaganda" zählt dabei schon, sich öffentlich als nicht-heterosexuell zu outen oder zu suggerieren, dass andere geschlechtliche oder sexuelle Orientierungen als Heterosexualität "normal" sind.
Das Gesetz wurde vom russischen Staatschef Wladimir Putin nur wenige Tage nach Inkrafttreten eines weiteren strengen und einschränkenden Gesetzes über "ausländische Agenten" abgesegnet. Damit geht der Kreml verstärkt gegen kritische Stimmen im Land vor und schränkt Meinungsfreiheit und Menschenrechte immer massiver ein.
Selbstzensur auf dem Vormarsch
Seit Ausweitung des Propaganda-Gesetzes 2022 hat auch die Selbstzensur unter den Betroffenen deutlich zugenommen, sagt Svetlana Shaytanova. "Die Geschichte Russlands zeigt, dass Selbstzensur die beste Zensur ist. Schon unter Stalin wurde etwas verboten und dann zeremoniell und demonstrativ bestraft. Das führte dazu, dass die Menschen aus Angst zur Selbstzensur griffen." Und das werde sich auch jetzt wiederholen, ist die russische LGBTQ-Aktivistin überzeugt.
Der russische Musikfernsehsender "TNT Music" ließ bereits vor Einstufung der LGBTQ-Bewegung als extremistisch einen Regenbogen aus einem Musikvideo der K-Pop Band Seventeen entfernen. Im Musikvideo zu "God of Music" tanzen die Bandmitglieder auf einer Wiese, während am Himmel ein Regenbogen mit verschiedenen Musiknoten zu sehen ist. Dieser wurde nun durch graue Wolken ersetzt, aus Angst, dass er gegen das LGBTQ-Propaganda-Gesetz verstoßen könnte. Das erinnert an ein Meme, welches in Russland schon seit Jahren kursiert. Es zeigt die bunte Regenbogenflagge in verschiedenen Graustufen – so sehe sie in Russland aus.
Schon im Juli hatte ein Moskauer Gericht den Eigentümer des Musiksenders "TNT Music", Fonbet TV, zu einer Geldstrafe von einer Million Rubel (ca. 10.000 Euro) verurteilt. Der Sender hatte das Musikvideo der finnischen Sängerin Alma zum Song "Summer Really Hurt Us" gezeigt. Weil darin zwei Frauen miteinander tanzen und sich küssen, habe der Sender gegen das Gesetz zur Verbreitung von LGBTQ-Propaganda verstoßen. Russischen Staatsmedien zufolge laufen derzeit vier weitere Klagen wegen ähnlicher Verstöße. Es droht eine weitere Geldstrafe von bis zu 16 Millionen Rubel (ca. 160.000 Euro).
Auch der russische Musiksender AIVA wurde bereits zu einer Geldstrafe von 50.000 Rubel (ca. 500 Euro) verurteilt. Er hatte ein Musikvideo des Künstlers Sergej Lazarew gezeigt, der Russland schon zwei Mal beim Eurovision Songcontest vertreten und jeweils den dritten Platz belegt hatte. In dem Musikvideo zum Lied „Tak krasivo" (So schön), das eh schon als "FSK 18" eingestuft ist, hielten gleichgeschlechtige Paare Händchen. Die Beschuldigung lautete: Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen.
Ebenfalls getroffen hat es das international bekannte russische Girl-Duo t.A.T.u.: Bekannt für ihre Küsse auf der Bühne und in ihren Musikvideos galten die beiden Sängerinnen Lena Katina und Julia Wolkowa als LGBTQ-Ikonen, auch wenn sie selbst nicht homosexuell sind. Letztes Jahr noch löschten die Administratoren des russischen Social-Media-Netzwerks VKontakte freiwillig alle Bilder der beiden, die sie sich küssend zeigten. Jetzt soll der Zugang zu weiteren Beiträgen, Fotos und Videos gesperrt worden sein.
Betroffen sind alle - von Nurejew bis Nachtclub
Es geht aber nicht nur um Musik - auch Filme, Bücher und Theateraufführungen sind von Selbstzensur und Verboten betroffen. Der russische Sender STS Love hat drei Folgen einer Fernsehserie aus seiner Mediathek genommen, in denen es um zwei Dragqueens in einem Schwulenclub geht. Bücher, die so genannte "nicht-traditionelle" sexuelle Beziehungen auch nur andeuten, werden in Russland verboten. Letztes Jahr cancelte das Bolschoi-Theater sogar sein Stück über den weltberühmten russischen Balletttänzer Rudolf Nurejew - weil dieser offen schwul war.
Das neue Gesetz hat aber auch schon Auswirkungen auf die Orte, an denen Menschen der LGBTQ-Community sich treffen und ausleben können. So musste "Central Station", der älteste Schwulenclub in St. Petersburg, bereits schließen: "Der Vermieter verweigerte uns wegen des [neuen] Gesetzes die Arbeit", schrieb der Clubbesitzer auf VKontakte: "Wir entschuldigen uns, aber wir sind nicht mehr im Geschäft".
"Es wird auch weiter LGBTQ-Menschen in Russland geben, so wie es sie schon immer gegeben hat", sagt die Aktivistin Regina Dzugkoeva. Und doch rechnet sie damit, dass es schon bald zu einer großen Migrationswelle kommen werde. "Schon jetzt kriegen wir mehr und mehr Nachrichten von Menschen aus Russland, die uns ihre Geschichte erzählen. Die Angst haben, verzweifelt sind und das Land verlassen möchten." "Aber natürlich können nicht einfach alle gehen", ergänzt ihre Mitstreiterin Svetlana Schaytanova. All jenen, die in Russland bleiben müssten, so fürchten die beiden Aktivistinnen, stehe eine eher dunkelgraue Zukunft bevor.