Libyen: Die abgesagten Wahlen
22. Dezember 2021Das libysche Parlament hat die ursprünglich für den 24. Dezember geplanten Präsidentschaftswahlen abgesagt. Nachdem die ursprünglich für denselben Tag geplanten Parlamentswahlen bereits im Herbst verschoben worden waren, finden in diesem Moment nun überhaupt keine landesweiten Wahlen statt. Einen neuen Termin nannte der Wahlausschuss des Parlaments noch nicht. Voraussichtlich werden sie aber auf einen Termin im Frühjahr des kommenden Jahres verlegt.
"Niemand wollte die Wahlen wirklich"
Tatsächlich standen die Wahlen in vielfacher Hinsicht auf schwachem Fundament, sagt die Politologin Asma Khalifa, die am Hamburger Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) zu Libyen forscht. Die verfassungsgemäße Grundlage der Wahlen sei nicht gesichert, außerdem sei der von den UN festgelegte Fahrplan nicht eingehalten worden.
Zudem hätten die maßgeblichen Akteure bereits seit Monaten versucht, die Wahl hinauszuzögern, sagt Sami Hamdi, geschäftsführender Direktor des globalen Risikobewertungsunternehmen International Interest in London. "Niemand wollte die Wahlen wirklich. Den Beteiligten ist es recht gut gelungen, ein Umfeld zu schaffen, das der Umsetzung der Wahlen nicht förderlich ist", so Hamdi im DW-Interview.
Problematische Kandidaten
Dass die Kommission die Kandidatenliste bislang nicht veröffentlicht hat, geht vor allem auf einen Umstand zurück: Auf ihr befinden sich höchst problematische Bewerber.
So hatte sich etwa der im Februar dieses Jahres ernannte Interimspremier Abdul Hamid Dbeiba als Kandidat registrieren lassen. Dabei hätte er die Wahlen entsprechend dem von den UN vermittelten Fahrplan nur vorbereiten und dann abtreten sollen.
Er sah sich einigen mächtigen Rivalen gegenüber. So etwa Aguila Saleh, der Sprecher des Repräsentantenhauses. Auch er hatte sich auf Grundlage seines Postens selbst in eine günstige Position gebracht. So ermöglichte ihm das wesentlich mit seiner Hilfe durchgesetzte Wahlgesetz, nun auch selbst als Kandidat anzutreten.
Ebenfalls aufgestellt hatte sich auch Saif al-Islam al-Gaddafi, der Sohn des 2011 gestürzten Diktators Muammar al-Gaddafi. Aufgrund der von einem Gericht in Tripolis festgestellten Kriegsverbrechen lehnte die Wahlkommission seine Kandidatur zwar ab. Doch Anfang Dezember erklärte ein anderes Gericht seine Kandidatur für zulässig. Al-Gaddafi wirbt nun damit, jene Stabilität wiederherzustellen, die das Land einst - gemeint ist: unter der Regierungszeit seines Vaters - hatte. Tatsächlich empfände ein Teil der Libyer angesichts der nicht abreißenden Gewalt ungeachtet der fehlenden Menschen- und Bürgerrechte nostalgische Gefühle für die Regierungszeit des ehemaligen Diktators, so Sami Hamdi.
Keine Kompromissbereitschaft
Auch der der Exilregierung in Tobruk verbundene Kommandant Khalifa Haftar, eine der Schlüsselfiguren im zurückliegenden Bürgerkrieg, hatte sich als Kandidat aufstellen lassen. In der vergangenen Woche lieferten sich seine Truppen in der im Süden des Landes gelegenen Stadt Sabha Gefechte mit Anhängern der Übergangsregierung mit Sitz in Tripolis. Beide Seiten sind offenbar bereit, die militärische Konfrontation im Zweifel über den politischen Wettbewerb zu stellen. Sollte Haftar libyscher Präsident werden, würde man in den Krieg ziehen, erklärte Khaled Al-Mishri, der Präsident des Hohen Staatsrats, Anfang November in einem Interview mit Al-Jazeera.
Es sei tragisch, dass zehn Jahre nach einem auf Demokratie und Menschenrechte setzenden Aufstand, sämtliche Spitzenkandidaten aus der Gaddafi-Ära stammten, sagt Sami Hamdi. "Das zeigt das katastrophale Versagen der von der NATO unterstützten Opposition, eine alternative Vision oder sogar eine alternative politische Bewegung zu bieten, die diesen Politikern der Gaddafi-Ära Paroli bieten kann."
Auch einige Milizentruppen - sie kämpfen vor allem für die persönlichen Interessen ihrer Anführer - zeigen sich kämpferisch. In der vergangenen Woche zogen bewaffnete Gruppen in die Nähe wichtiger Regierungseinrichtungen in Tripolis. Deren Anführer Salah Badi drohte, die politischen Institutionen zu schließen - ein deutliches Zeichen, wie wenig er gewillt ist, sich von einer wie immer gearteten Regierung in seinen Interessen beeinträchtigen zu lassen. "Die Milizen sind durchaus bereit, wieder in den Krieg zu ziehen", kommentiert der Politologe Sami Hamdi die Situation.
Elite sehen Konkurrenz als Nullsummenspiel
Die gesamte Entwicklung lasse erkennen, wie wenig sich die politische Kultur Libyens vor allem an der Spitze geändert habe, sagt Asma Khalifa. "Seit Jahren gilt den Eliten der politische Wettbewerb als ein Nullsummenspiel. Dass sich Macht teilen lässt, vermögen sie sich offenbar trotz des verheerenden Bürgerkriegs nicht vorzustellen."
Vor Ort wird die Situation jedoch noch komplizierter, da sich die vermeintlichen Rivalen, mit Ausnahme von Dbeiba, in Benghazi getroffen haben. "Dies deutet auf eine mögliche Verschiebung der Machtverhältnisse hin", so Khalifa. "Da könnte auch bedeuten, dass die bisherige Logik eines politischen Ost- und Westteils des Landes seine Selbstverständlichkeit verlieren könnte."
Eine offene Zukunft
Angesichts der unabsehbaren Situation ist auch die weitere Entwicklung des Landes offen. Diskutiert werden bereits mehrere Optionen. So könnten die Wahlen in den Frühling verlegt werden, und zwar so, dass zunächst die Parlamentswahlen stattfinden. Sie gelten als weniger strittig als die Präsidentschaftswahlen. Das bedeute aber nicht, dass die politischen Akteure die Wahlen zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich wollten, sagt Sami Hamdi.
Aus diesem Grund seien auch die ausländischen Staaten, insbesondere die UN weiter in der Pflicht, sagt Asma Khalifa. Es habe insbesondere nach der Berliner Konferenz Möglichkeiten gegeben, jene, die die Einigung des Landes hintertreiben wollten, zur Rechenschaft zu ziehen. Diese Möglichkeiten seien aber nicht hinreichend genutzt worden. Umso mehr komme es nun darauf an, eine stabile verfassungsrechtliche Grundlage zu installieren, so dass die Wahlen dann tatsächlich auch durchgeführt werden können. "Nur so kann der politische Prozess zu einer Lösung führen. Misslingt das, wird es zu weiteren Konflikten führen."