Lindner: Deutsche Wirtschaft trotz Rezession stark
Veröffentlicht 15. September 2023Zuletzt aktualisiert 15. September 2023"Der Weg zu einer niedrigen Inflation und mehr Wirtschaftswachstum wird lang, viel länger als der Weg, den die vielen Pilger nach Santiago de Compostela zurücklegen", orakelte Pierre Gramegna beim EU-Finanzministertreffen in dem spanischen Wallfahrtsort. Gramegna ist der Chef des Europäischen Stabilitätsmechanismus, einem riesigen Rettungsfonds, der im Falle von Finanzkrisen ganze Staaten vor dem Ruin retten soll. Der Luxemburger Gramegna geriet in Schwärmen, als er vom kollektiven Besuch der EU-Finanzministerinnen und -minister in der Kathedrale des berühmten Pilgerortes Santiago de Compostela am Donnerstag berichtete. "Das war inspirierend und macht auch demütig."
Lindner: Mehr investieren und Haushalte sanieren
Inspiration können die Finanzminister der EU angesichts der vielen Probleme, die sich angestaut haben, gut gebrauchen. Vielleicht hatte die spanische Ratspräsidentschaft deshalb nach Santiago eingeladen. Patentrezepte haben die versammelten Minister und Notenbankchefs nicht präsentiert, nur die Analyse, dass das Wachstum in Europa mit 0,8 Prozent geringer ausfallen wird als erwartet und Deutschland sogar schrumpft, also auf eine Rezession zusteuert.
Der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) musste Fragen seiner Kolleginnen und Kollegen beantworten, wie er die größte Volkswirtschaft in Europa wieder flott machen will. "Deutschland ist ein starkes Land. Unsere Wirtschaft hat Substanz und auch das Potenzial für einen raschen Turnaround", sagte Lindner in einem Interview mit der DW. Die Konjunktur in Deutschland leide unter sinkender Nachfrage aus China. Das treffe deutsche Exporteure schneller als andere. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine habe zu höheren Energiepreisen geführt. Die gestiegenen Zinsen, die die Europäische Zentralbank am Donnerstag noch einmal um 0,25 Prozent auf 4,50 Prozent erhöhte, dämpften die Konjunktur. "Wir haben strukturelle Probleme, an denen wir arbeiten: Fachkräfte, Energie, Infrastruktur, Digitalisierung, steuerliches Umfeld. Das verbessern wir, damit wir wieder ein Momentum gewinnen für Wachstum, wovon Europa insgesamt profitieren wird", versicherte Lindner im Gespräch mit der Deutschen Welle. Schon 2024 werde die deutsche Wirtschaft wohl wieder wachsen, bestätigte auch der zuständige EU-Kommissar Paolo Gentiloni in Santiago de Compostela noch einmal.
Auf der Suche nach neuem Fiskalpakt
Der EU-Kommissar mahnte erneut, dass die Finanzminister sich endlich auf eine Reform der Schuldenregeln für ihre Haushalte einigen müssten. Gentiloni hatte eine gewissen Lockerung und Flexibilisierung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes für die Euroländer vorgeschlagen. Doch die sogenannten frugalen Länder mahnen zu strikter Haushaltsdisziplin, unter der Führung von Deutschland. Frankreich und viele südliche Länder setzen dagegen auf mehr Investitionen, auch wenn sie mit Schulden finanziert werden müssten. "Wir brauchen stärkeres Wachstum. Das heißt, Regeln sollten die Mitgliedsstaaten nicht an Investitionen in Innovation und neue Technologien hindern", forderte der französische Finanzminister Bruno Le Maire. "Das ist die Balance, die wir finden müssen."
Der deutsche Finanzminister Christian Lindner empfiehlt im DW-Interview einen anderen Ansatz in Europa: "Der dritte Weg, und zu dem rate ich, ist: Solide öffentliche Haushalte, in denen wir Prioritäten für Investitionen schaffen. So machen wir das in Deutschland gegenwärtig ja auch. Das öffentliche Defizit sinkt. Wir haben eine moderat restriktive Fiskalpolitik." Die brauche man auch, um die Inflation weiter zu bekämpfen und die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank nicht zu konterkarieren. Die Investitionsquote im Haushalt müsse steigen. "Durch Prioritätensetzung kann beides gelingen, das erfordert aber Mut, auch mal zu sagen, was nicht geht", meinte Lindner in Santiago de Compostela gegenüber der DW. Zur französischen Haltung sagte er: "Es gibt unterschiedliche Mentalitäten, so viel ist klar."
Inflation soll auf zwei Prozent sinken
Die Balance, von der Bruno Le Maire spricht, oder der dritte Weg, den Christian Linder umreißt, also die neuen Fiskalregeln, müssten bis Ende des Jahres gefunden werden, fordert EU-Kommissar Paolo Gentiloni: "Ich bleibe da von Amts wegen optimistisch." EU-Diplomaten gehen nicht davon aus, dass sich in dieser Frage in Santiago de Compostela viel bewegen wird. Auch die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, forderte die EU auf, zu einer verantwortungsvollen Aufstellung öffentlicher Haushalte zurückzukehren. Die Schuldenregeln sind wegen der Coronakrise und des russischen Kriegs gegen die Ukraine seit 2020 ausgesetzt. Die Verschuldung in der EU ist stark angewachsen.
Zu hohe Staatsausgaben befördern nämlich auch die mit sechs Prozent zu hohe Inflation in der EU, die Lagarde mit ihrer Zinspolitik wieder auf den angestrebten Wert von zwei Prozent drücken will. "Das werden wir auch schaffen", erklärte Lagarde in bestimmtem Ton. Sie hatte gestern Nacht ebenfalls die Kathedrale mit dem Grab des Apostels Jakobus besucht und war "sehr beeindruckt und inspiriert". Wann die Zinsen, die die Konjunktur abschwächen und zum Beispiel die Bauwirtschaft in Deutschland zum Stillstand bringen, wieder sinken können, ließ Lagarde trotz bohrender Nachfragen - und mit einem breiten Lächeln - offen.