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Litauen legalisiert Pushbacks

3. Mai 2023

An diesem Mittwoch soll in Litauen ein Gesetz in Kraft treten, das sogenannte Pushbacks gesetzlich festschreibt. Es sorgt zwar für einen Aufschrei humanitärer Organisationen, ist aber nicht beispiellos in der EU.

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Mitglieder des litauischen Grenzschutzdienstes patrouillieren an der Grenze zu Belarus, im Vordergrund ein Stoppschild
Mitglieder des litauischen Grenzschutzdienstes patrouillieren an der Grenze zu Belarus (Archivbild)Bild: Mindaugas Kulbis/dpa/AP/picture alliance

Am 3. Mai tritt in Litauen ein Gesetz in Kraft, welches sogenannte Pushbacks legalisiert. "Die Grenzschützer dürfen jetzt gesetzlich gedeckt irreguläre Migranten über die Grenze zurückschicken und es gibt keine einzelne Überprüfung, ob diese Person Asyl braucht, oder nicht," beschreibt Jurate Juskaite, Direktorin des litauischen Zentrums für Menschenrechte, die Auswirkungen des Gesetzes gegenüber der DW.

Damit wird die bereits seit dem Sommer 2021 gängige Praxis der litauischen Behörden, Migranten direkt nach dem Grenzübertritt wieder zurückzuschieben, gesetzlich verankert. Damals sah das baltische Land einen Anstieg von Grenzübertritten von Migranten aus dem autoritär regierten Belarus. Die litauische Regierung wähnte sich damals einem Angriff des autoritären belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenkos ausgesetzt. Auch die Europäische Union (EU)sprach damals von einem "hybriden Angriff" und vermutete dahinter den Versuch die EU destabilisieren zu wollen.Auch Polen und Lettland sahen sich steigenden Migrationszahlen aus Belarus ausgesetzt. Der Vorwurf, der im Raum stand, war, dass Menschen aus Drittländern extra nach Belarus gelockt würden, um dann - auch mit Hilfe des belarussischen Staates - die EU-Außengrenze zu überqueren. Das Gesetz solle in Ausnahmezuständen gelten und nach Angaben des Innenministeriums eine klare Unterscheidung zwischen natürlicher und instrumentalisierter Migration machen, berichtet der litauische öffentlich-rechtliche Sender LRT. 

Infografik Karte Litauen mit Vilnius und Kaunas DE

Einsatz ziviler Grenzschützer 

Litauen hat eine fast 680 Kilometer lange Grenze zu Belarus. Das Land hat auf die Situation mit einem circa 550 kilometerlangen Grenzzaun reagiert. 4 Meter hoch und mit Stacheldraht ausgestattet soll er die Migranten von der illegalen Einreise in die Europäische Union abhalten. Kraft des neuen Gesetzes sollen in Zukunft auch sogenannte zivile Grenzschützer die Grenze bewachen. Ein Vorhaben, das Nichtregierungsorganisationen sehr kritisch beobachten. Denn die Eintrittshürde für solche Grenzschützer ist laut Menschenrechtlerin Juskaite niedrig. Außerdem würde diesen Grenzschützern Gewaltanwendung gestattet.

Litauens Grenze zu Belarus im Schnee mit einem Zaun
Den 550 kilometerlangen Grenzzaun zu Belarus dürfen in Zukunft auch sogenannte zivile Grenzschützer bewachenBild: Alexander Welscher/dpa/picture alliance

Dies würde Gewaltanwendung normalisieren und zur Kriminalisierung von Migranten führen, meint auch Julia Zelvenska, Leiterin der Rechtsberatung des Europäischen Flüchtlingsrates, einer Dachorganisation von 110 Nichtregierungsorganisationen, im Gespräch mit der DW. Litauen ist nicht das einzige EU-Land, in dem es eine solche Regelung gibt. Laut Zelvenska kennt auch Ungarn solche zivilen "Grenzjäger". Das ungarische Gesetz gilt als Vorbild des litauischen Gesetzes.

Am Freitag führte eine Sprecherin der EU-Kommission aus, dass das geltende EU-Recht Bestimmungen zur Grenzsicherung enthalte. Darunter auch eine Regelung, dass es sich bei den Grenzbeamten um spezialisierte und angemessen ausgebildete Fachkräfte handeln müsse. 

Litauens Gesetz ist nicht beispiellos

Der Vorwurf von Pushbacks an EU-Außengrenzen ist nicht neu und ist bereits mehrfach dokumentiert durch NGOs und Journalisten. Der ehemalige Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex Fabrice Leggeri trat letztes Jahr über Medienberichte, dass die Agentur in Pushbacks verwickelt sei, zurück. Dabei stehen häufig auch Vorwürfe körperlicher Misshandlung im Raum. Darüber berichtet etwa das Antifolterkomitee des Europarates und spricht in einer Pressemitteilung vor allem von Schlägen - Faustschlägen, Ohrfeigen, Hieben mit Schlagstöcken - bei der Festnahme durch Polizei, Grenzschutz oder Küstenwache. Handelt es sich nun bei der Legalisierung der Pushbacks um einen Dammbruch? 

Bereits vor der litauischen Regelung habe es vergleichbare Maßnahmen gegeben, sagt Zelvenska. "Im Allgemeinen war dies eine ziemlich weit verbreitete Situation in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten. Und zwar dann, wenn diese meist kurzfristige, befristete Maßnahmen ergriffen und einen Notstand ankündigten - also eine Art Einschränkung des Asylrechts",  sagt Julia Zelvenska. Die Juristin nennt Griechenland als Beispiel. Laut der Hilfsorganisation Pro Asyl gibt es solche Regelungen zumindest in Ansätzen auch in Polen und Ungarn.

EU-Grenzschutz unter Beachtung der Grundrechte

Eine Sprecherin der EU-Kommission erklärte am Donnerstag, dass man das Gesetz, das noch nicht in Kraft sei, derzeit prüfe und in engem Kontakt mit den litauischen Behörden stehe. Mit Blick auf die Pushbacks verweist die EU-Kommission auf ihre Linie, dass Grenzschutz im Einklang mit den Grundrechten durchgeführt werden müsse.

Karl Kopp, Europareferent der Nichtregierungsorganisation Pro Asyl, zweifelt an, dass die EU-Kommission ihrer Aufgabe den Grundrechtsschutz sicherzustellen nachkommt: "Die europäische Kommission ist als Hüterin der Verträge verpflichtet, EU-Rechte, die Charta der Grundrechte, durchzusetzen - zu überwachen und auch zu sanktionieren, wenn es zu Verletzungen kommt. Aber ob sie den Job erfüllt, da haben wir Zweifel." Sie würde viele Dinge laufen lassen und Menschenrechtsverletzungen nicht sanktionieren, kritisiert Kopp die EU-Kommission.

Einzelfallprüfung durch Grenzbeamte?

Jedenfalls hat sich der EU-Gerichtshof in Luxemburg bereits letztes Jahr mit litauischen Asylregeln befasst. In einem Urteil zur damals geltenden Notstandsgesetzgebung stellte der Gerichtshof klar, dass es gegen EU-Recht verstoße, wenn durch die Verhängung eines Ausnahmezustandes Migranten faktisch keinen Zugang zu einem Asylverfahren hätten. Neben der möglichen Gewaltanwendung bei einem Pushback handelt es sich bei der Verweigerung eines förmlichen Asylverfahren um den heikelsten Punkt.

Die neue litauische Regelung sehe zwar laut Gesetz und den Abgeordneten vor, dass die Grenzschutzbeamten die Möglichkeit hätten Einzelfälle zu bewerten, sagt Juskaite. Doch halte sie die Grenzschützer nicht für kompetent diese Entscheidung zu treffen. "Wir haben gesehen, dass Kinder abgeschoben wurden, wir haben gesehen, wie Menschen im Winter ohne Schuhe in die Wälder zurückgeschickt wurden. Wir haben Menschen in den Wäldern von Litauen sterben sehen," sagt die Menschenrechtlerin.

Europarat ruft auf Pushbacks zu unterlassen

Die Innenministerin Litauens Agne Bilotaite sagte am Dienstag vergangener Woche, das Land müsse sich verteidigen. "Wenn es um die nationale Sicherheit und die Menschenrechte geht, gibt es keine einfachen Lösungen, aber auch keine Alternativen", zitiert die Agentur AFP die konservative Politikerin. Darüber hinaus gebe das Innenministerium an, über Geheimdienstinformationen zu verfügen, dass Belarus mit Iran und Irak über neue Direktflüge verhandle. 

Portrait litauische Innenministerin Agne Bilotaite
Die litauische Innenministerin Agne Bilotaite sagt: Ihr Land muss sich verteidigenBild: Aris Oikonomou/AFP/Getty Images

Derartige Begründungen dürften beim Europarat auf taube Ohren stoßen. Ende März hatte das Komitee des Europarates zur Verhütung von Folter europäische Regierungen dazu aufgerufen Pushbacks, insbesondere an Land- und Seegrenzen der EU, zu beenden.

Der Vorsitzende des Gremiums, Alain Mitchell, wies darauf hin, dass auch die komplexe Lage an den Grenzen nicht bedeute, dass die Staaten ihre Verpflichtungen gegenüber den Menschenrechten ignorieren dürften. Und, dass Pushbacks rechtswidrig seien.

Die EU-Staaten sind bei ihrem Handeln an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Dies wird durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg überwacht. Sich genau an diesen Gerichtshof zu wenden und Litauen dort zu verklagen - das wollen jetzt offenbar litauische Nichtregierungsorganisationen als erstes tun, so Juskaite. Außerdem würde man darüber nachdenken, den Fall auch an andere internationale Stellen, wie die Vereinten Nationen, heranzutragen. 

Darüber hinaus könnte die EU-Kommission grundsätzlich auch ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, sollte sie in den neuen litauischen Regelung einen Verstoß gegen EU-Recht sehen. Derzeit befindet sich die EU-Kommission aber wohl noch im Prüfstadium.

DW Mitarbeiterin Lucia Schulten
Lucia Schulten Korrespondentin in Brüssel