Chinesische Literatur
5. September 2013Ulrich Kautz hat noch ein paar ungedruckte chinesische Romane in seinen Schubladen. Kautz ist einer der wichtigsten Übersetzer für chinesische Literatur in Deutschland. Er hat zum Beispiel "Brüder" von Yu Hua übersetzt, eine Groteske über den chinesischen Wirtschaftboom, oder "Der Traum meines Großvaters" von Yan Lianke, ein Roman über die Infizierung ganzer Dörfer mit HIV durch Bluthändler in den neunziger Jahren. "Der Traum meines Großvaters" erschien in einer Auflage von mehreren Tausend Exemplaren. Auch "Brüder" verkaufte sich immerhin einige zehntausend Mal und wurde viermal aufgelegt - eine seltene Ausnahme unter den chinesischen Büchern. "Die Verlage gehen davon aus, dass chinesische Literatur nur für Spezialisten interessant ist", sagt Kautz.
Übertriebene Metaphern, unverständliche Anspielungen
Einer der Gründe dafür könnte sein, dass Literatur aus China dem deutschen Publikum einfach fremd ist. "Chinesische Schriftsteller sind sehr stark in ihrer nationalen Kultur verwurzelt", erklärt Kautz, der es als eine seiner größten Herausforderungen ansieht, dieses "kulturelle Differential" zu überbrücken.
Das beginnt mit Stilfragen, etwa bei der Vorliebe chinesischer Schriftsteller für starke Metaphern, die dem westlichen Leser übertrieben scheinen. Und setzt sich fort in Anspielungen und Zitaten aus der klassischen Tradition, die deutsche Leser nicht verstehen würden. Als Ausweis besonderer Stilsicherheit gilt in China die häufige Verwendung von Sprichwörtern, die auf überlieferte Geschichten zurückgehen und die dem deutschen Leser natürlich fremd sind.
Leichter haben es auf dem deutschen Markt chinesische Schriftsteller, die im Exil leben und schreiben. Ha Jin beispielsweise, der in den achtziger Jahren in die USA emigrierte, landete vor gut zehn Jahren mit der historisch aufgeladenen Dreiecks-geschichte "Warten" einen Publikumserfolg. Das Buch war zuerst auf Englisch erschienen. Dai Sijie schrieb seinen erfolgreichen Roman "Balzac und die kleine chinesisiche Schneiderin" auf Französisch. Beide Romane spielen während der Kulturrevolution und sind damit auch beim Lesepublikum in Deutschland von zeitgeschichtlichem Interesse.
Dissidentenliteratur
Das ist ein weiterer wichtiger Faktor: Chinesische Literatur wird oft deshalb gelesen, um mehr über China zu erfahren. Auch der relative Erfolg von Yu Huas Roman "Brüder", der als Bestandsaufnahme der chinesischen Gesellschaft verstanden werden kann, lässt sich ein Stück weit dadurch erklären. Viele Romane des Literatur-Nobelpreisträgers Mo Yan bedienen dieses Bedürfnis. Sie erscheinen in Deutschland in immer neuen Auflagen – nicht erst seit der umstrittenen Verleihung des Literaturnobelpreises an den chinesischen Schriftsteller im vergangenen Jahr.
Und gerade an dieser Auszeichnung hat sich aber auch ein Streit entzündet, der die Wahrnehmung von chinesischer Literatur in Deutschland besonders prägt. Die Frage, wie ein Schriftsteller zu Regierung und Kommunistischer Partei steht, ist bei Literaturkritikern und Journalisten ein immer wiederkehrendes Thema.
Die explizite Nachfrage nach "Dissidentenliteratur" wird von den Verlagen deshalb gerne bedient. "Dass es ein großes Engagement und ein Interesse des Verlages an Fragen der Menschenrechte gibt, ist klar", teilt beispielsweise der Fischer-Verlag mit. Neben Yu Hua verlegt Fischer die schockierenden Berichte Liao Yiwus über das Leben der Unterschicht und den Gefängnisalltag in China. Mit seinen nicht-fiktionalen Werken ist Liao ein sehr spezieller Schriftsteller – seine Werke füllen eine literarische Nische zwischen Dokumentation und Erzählung. Für die deutsche Öffentlichkeit ist der meinungsstarke Regierungskritiker, der in Berlin lebt, spätestens seit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2012 zum Gesicht der chinesischen Literatur geworden.
Der Vorwurf: Staatsschriftsteller
Literaturnobelpreisträger Mo Yan dagegen wurde in der deutschen Diskussion immer wieder sein Posten im Präsidium des chinesischen Schriftstellerverbands vorgeworfen. Abschätzig bezeichnete man ihn nach der Bekanntgabe des Nobelpreises in manchen Kritiken als "Staatsschriftsteller". Besonders stark hat ihn in den Augen vieler diskreditiert, dass er auf der Frankfurter Buchmesse 2009 als Angehöriger der offiziellen chinesischen Delegation eine Veranstaltung mit chinesischen Dissidenten boykottierte. Dabei sind seine Werke keineswegs so regimetreu, wie damals gelegentlich behauptet wurde. Mo thematisiert mutig Zwangsabtreibungen im Rahmen der Ein-Kind-Politik, schreibt über Korruption und Bauernaufstände im kommunistischen China.
Beim Publikum jedenfalls scheinen seine Romane, die erzählmächtig und mit einer gehörigen Portion Blut, Exkrementen, Sperma und Erbrochenem daherkommen, mehr als viele andere chinesische Werke einen Nerv zu treffen. Fast alle seine Werke, die aus dem magischen Realismus der lateinamerikanischen Literatur ebenso wie aus der chinesischen Erzähltradition schöpfen, liegen in deutscher Übersetzung vor. Seit den achtziger Jahren werden sie immer wieder neu aufgelegt.
"Nur Literatur-Schinken"
"Saftige Streifen, nicht ohne Tiefgang", das sei es eben, was in Deutschland vor allem gefragt sei, sagt Übersetzer Ulrich Kautz. Wolfgang Kubin, emeritierter Professor für chinesische Literatur in Bonn, formuliert das deutlich weniger milde: "Die großen Verlage bringen nur Literatur-Schinken heraus." Kubin ist Übersetzer für chinesische Lyrik und beklagt, dass dem deutschen Publikum ein großer Teil der chinesischen Literatur so entgeht. Neben dem zeitgeschichtlichen Roman habe keine weitere Gattung der chinesischen Literatur wirklich Eingang gefunden in den deutschen Buchmarkt. "Märkte, Verleger und Journalisten interessieren sich nur für die Masse" klagt er. Er selbst habe "Berge von Übersetzungen" vor allem lyrischer Texte produziert, die kaum eine Chance haben, verlegt zu werden.
Einer, der diese Tendenz ebenfalls gerne ändern würde, ist Martin Hanke. Der Sinologe gründete vor einigen Jahren den Ostasien-Verlag, der wissenschaftliche Literatur herausgibt. Seit einigen Jahren hat er auch literarische Werke in ein Sortiment aufgenommen, oft in zweisprachigen Ausgaben. Bisher erschienen Bücher der Schriftstellerin Feng Li und von Wang Shuo - beides Schubladenleichen aus dem Bestand von Ulrich Kautz. Die Bücher sind im Buchhandel kaum zu finden, die Auflage ist winzig. Dennoch ist Hanke sicher, dass er nicht auf seinen Beständen sitzenbleiben wird. "Wir haben einen kleinen Abnehmerkreis, der dankbar ist, dass wir uns nicht auf die Masse konzentrieren", sagt er.
Keine Bestseller
Denn auch wenn chinesische Autoren es in Deutschland nicht bis in die Bestsellerlisten geschafft haben, wer sich dafür interessiert, findet eine ganze Menge chinesischer Literatur in deutscher Übersetzung. Alle großen Werke des 20. Jahrhunderts seien übersetzt worden, sagt Wolfgang Kubin. Und auch Ulrich Kautz klopft seiner Zunft auf die Schulter. "Was wirklich wichtig war, da haben wir einen ganz guten Riecher gehabt."