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Lizzie Doron: "Die Situation ist unlösbar"

25. Mai 2021

Der Krieg sei immer Teil ihres Lebens gewesen, sagt die israelische Schriftstellerin im DW-Interview. Doch erstmals schaffe sie es nicht mehr zu schreiben.

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Autorin Lizzie Doron
Die Schriftstellerin Lizzie DoronBild: Anke Fleig/Sven Simon/picture alliance

Über viele Jahre schrieb Lizzie Doron erfolgreich über die Traumata der Judenverfolgung. 2015 veröffentlichte die in Tel Aviv lebende Autorin mit "Who the Fuck is Kafka" ihren ersten Roman, in dem sie die palästinensische Seite zu Wort kommen ließ. Mit "Sweet Occupation" folgte 2017 ein Roman, für den Doron ehemalige palästinensische Terroristen interviewte. Beide Bücher fanden in Israel keinen Verlag. Die 67-Jährige gilt im eigenen Land als "Nestbeschmutzerin", da sie sich offen für eine friedliche Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern ausspricht. Im Interview mit der DW erzählt Doron nun, warum für sie eine Lösung des Konflikts in eine immer weitere Ferne gerückt ist. 

DW: Frau Doron, wie nehmen Sie das erneute Aufflammen des Nahostkonflikts wahr? 

Lizzie Doron: Nichts ist neu, es ist immer das Gleiche: Es sind nur jedes Mal andere Auslöser. Der Unterschied dieses Mal ist Corona, das uns an eine mentale Grenze gebracht hat. Wir sind viel unruhiger geworden. Wir wollten zurück in die Normalität. Wir waren so glücklich über die Impfung und den Erfolg Israels, das womöglich als erstes Land die Situation überwunden haben würde. Der Krieg war keine große Überraschung, aber das Timing war wirklich schrecklich. Das ist die neue Situation, aber Kriege sind in gewisser Weise unser Leben.

Warum ist die Situation derart eskaliert?

Wir hatten vielleicht die Illusion, dass es eine Art von Solidarität in der Gesellschaft während der Corona-Tage gab. Wir haben festgestellt, dass wir in gewisser Weise die gleichen Feinde haben. Wissen Sie, ein Virus ist ein großer Feind. Ich hatte das Gefühl, dass dies der Beginn einer neuen Ära ist - auch speziell im Hinblick auf den Prozess, ein Heilmittel zu finden. Die Impfung war eine globale Lösung. Es war nicht nur eine Lösung, die an ein Land, an eine Religion, an ein bestimmtes Volk gebunden ist. Wir alle kämpften gemeinsam für die Kontinuität unseres Lebens. Aber das Leben kam zu schnell zurück. Wir haben nichts gelernt: Durch die Frustration und die harten Tage des Corona-Jahres waren wir aggressiver, was uns veranlasste, alle Hemmungen fallen zu lassen.

Ein Frau erhält in Tel Aviv ihre Impfung gegen das Corona-Virus.
Israel setzt alles daran, seine Bevölkerung schnell durchzuimpfen. Die Stadt Tel Aviv lockte mit FreigetränkenBild: Corinna Kern/REUTERS

Hinzu kam das Bedürfnis der Politiker, stark erscheinen zu wollen. Sie benutzen die Menschen. Sie wollen, dass die Menschen schwach sind. Sie wollen, dass sie sich auf ihre Führer verlassen, um sie kontrollieren zu können. In Zeiten des Krieges brauchen wir jemanden, der uns führt. Ich kann es nicht allein schaffen, wenn ich im Schutzraum sitzen muss. Ich will, dass mich jemand von außen rettet. Wenn die Sirenen heulen, kann ich nicht an einen anderen Premierminister denken. Ich will meinen eigenen Premierminister, den, der die Kontrolle hat. 

Wie gehen Sie mit der ständigen Bedrohung um? Schaffen Sie es überhaupt zu arbeiten?

Das ist eine gute Frage. Übrigens, ich sitze hier in meinem Arbeitszimmer und dahinter befindet sich unser Schutzraum. Jedes Haus in Israel hat einen Schutzraum und mein Schutzraum ist meine Bibliothek. Ich habe dort 5000 Bücher und Wasser. Meine Familie scherzt immer: Sie wird mit ihren Büchern zusammen sterben (lacht).

Ich bin ein besessene Schriftstellerin. Ich schreibe von morgens bis abends. Mein Leben als Schriftstellerin ist über 20 Jahre mit Kriegen, mit Krankheit, mit Schwierigkeiten einhergegangen. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich je das Bedürfnis hatte, mit dem Schreiben aufzuhören. Doch während dieses Krieges saß ich vor dem Computer und konnte keinen einzigen Satz schreiben, kein einziges Wort. Ich war einfach so deprimiert. Ich bin fast 70. Ich erinnere mich an ein Leben voller Kriege: Ich war ein Kind in einem Krieg. Ich war eine Mutter in einem Krieg. Und jetzt bin ich eine Großmutter in einem Krieg. Und ich habe das Gefühl, dass es endlos so weiter geht. Ich denke, dass es vielleicht nicht der richtige Ort für die Zukunft meiner Familie ist.

Buchcover von "Who the fuck is Kafka"
"Who the fuck is Kafka" erzählt von Freundschaft über Herkunftsgrenzen hinausBild: dtv

Bekannt geworden sind Sie mit Büchern über den Holocaust. Dann lernten Sie einen palästinensischen Filmemacher kennen. In Ihrem Buch "Who the Fuck Is Kafka" beleuchten Sie, ob Freundschaft zwischen einer Israelin und einem Palästinenser möglich ist. In "Sweet Occupation" interviewen Sie ehemalige palästinensische Terroristen. Wie kam es dazu, dass Sie "die andere Seite" zu Wort kommen lassen? 

Ich denke, dass es für mich zuerst am einfachsten war, meine eigene Geschichte zu erzählen, aber dann spürte ich, dass mein Nachbar in den besetzten Gebieten wahrscheinlich eine ähnliche Geschichte zu erzählen hat: über den Traum, frei zu sein, über den Traum, ein Land zu haben und mit seiner Familie friedlich und offen zu leben.  

Und ich wollte verstehen, inwiefern Feinde eine große Veränderung im Leben der Menschen bewirken. In meinem Leben waren die Feinde die deutschen Nazis während des Zweiten Weltkriegs, die das Leben meiner Familie zerstört haben. Nicht vergleichbar, aber für mich als Schriftstellerin wichtig zu erzählen, ist die Geschichte der Palästinenser, in deren Land die Israelis gekommen sind, die ihnen ihre Heimat genommen und sie besetzt haben. Natürlich sind die Menschen und die Geschichten anders und die Geschichte ist anders, aber trotzdem: Meine Protagonisten, meine Helden sind Menschen, die um ihr Leben kämpfen müssen.

Ihre Offenheit hat dazu geführt, dass man Sie in Israel anfeindet. Sie galten als "Verräterin"...

Ich bin es immer noch. Ich war eine Ikone der Holocaust-Erzählung und ich war verpflichtet, das jüdische Leiden zu erzählen. Meine Verleger und sogar meine Leser waren sehr verärgert über meine Veröffentlichungen. Als sie feststellten, dass ich mich mit der Geschichte meiner Feinde beschäftige, war das für sie sehr schwer zu verdauen, wenn ich so sagen darf. Hinzu kommt, dass Holocaust-Geschichten sehr populär sind und sich recht gut verkaufen.

Israelische und palästinensische Aktivisten demonstrieren gegen den Ausbau von Siedlungen im Viertel Sheikh Jarrah im Osten Jerusalems.
Israelische und palästinensische Aktivisten setzen sich seit langem gemeinsam gegen den Ausbau von Siedlungen im arabischen Viertel Sheikh Jarrah in Jerusalem einBild: Tania Kraemer/DW

Mein neues Buch ("Was wäre wenn", erscheint bei dtv, Anmerk.d.Red.) wird am 20. August in Deutschland erscheinen. Es ist wieder die Geschichte über einen Freund von mir, der unter posttraumatischen Belastungsstörungen leidet, weil er versucht hat, gegen Kriege zu kämpfen. Ich habe beschlossen, die Geschichte von Menschen zu erzählen, die versuchen, ihre Stimmen in ihrem eigenen Land zu erheben. Aber niemand ist bereit zuzuhören. Und ich hoffe, dass dieses Buch eines Tages einen israelischen Verlag finden wird. Viele Menschen in Israel versuchen, etwas zu verändern. Aber wir leben in Zeiten, in denen es sehr schwierig ist, jemandem zuzuhören oder mit Veränderungen umzugehen.

Sehen Sie es als Aufgabe der Autoren, Veränderungen zu bewirken?

Ich denke, Autoren können die Samen dafür setzen. Für das Kommende. Oder um eine andere Vision oder einen anderen Blickwinkel zu zeigen. Aber wir wissen, dass Bücher allein oder Autoren allein keine Veränderung bewirken können. Das ist offensichtlich.

Was ist Ihre Vision für ein friedliches Zusammenleben? 

Wissen Sie, vielleicht ist gerade nicht der richtige Zeitpunkt, um Ihnen eine Antwort zu geben, denn im Moment denke ich, dass es Situationen in der Welt gibt, für die es keine Lösung gibt. Die meisten Menschen aus der westlichen Welt wollen eine Lösung finden. Und es gibt Menschen, zum Beispiel religiöse Menschen, die davon träumen, dass Gott die Probleme lösen wird, oder Menschen, die denken, dass Krieg die Lösung ist. Deshalb denke ich, dass die Situation im Nahen Osten im Moment unlösbar ist, es muss erst eine große Veränderung im Verhalten der Menschen geben.

Die Menschen müssen für den Wiederaufbau Israels kämpfen, damit es ein demokratisches und freies Land für die Juden und die Araber wird. Aber ich sehe es im Moment nicht an der Schwelle zu dieser wirklichen Veränderung. Es ist nur ein Traum und noch nicht mal ein wirklich konkreter.

Im Moment ist meine Antwort, dass wir uns in einer unlösbaren Situation befinden, aber man kann in einer unlösbaren Situation leben. Wir leben so, wie wir früher gelebt haben und wir werden so leben, wie wir in der Vergangenheit gelebt haben. Und die Menschen werden ihre eigenen Entscheidungen für den Moment treffen.
 

Das Interview führte Annabelle Steffes-Halmer.

Annabelle Steffes-Halmer | provisorisches Kommentarbild
Annabelle Steffes-Halmer Autorin, Redakteurin, Videojournalistin und Trainerin