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MacMillan: "Die Ukraine siegt im Informationskrieg"

Brenda Haas
7. März 2022

Die Historikerin Margaret MacMillan lobt, wie die Ukraine mobilisiert. Dass ein Kulturboykott Russlands große Auswirkung haben wird, glaubt sie nicht.

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Margaret MacMillan in schwarzem KLeid und Perlenkette
Die preisgekrönte Historikerin Margaret MacMillanBild: Ander McIntyre

Die kanadische Historikerin und Autorin Margaret MacMillan hat zahlreiche Bücher geschrieben, darunter auch einige, die sich mit Krieg und seinen Folgen beschäftigen. Dazu zählen zum Beispiel "Paris 1919: Six Months That Changed the World" (2001) - dafür gewann sie als erste Frau den Samuel Johnson Prize - und "Die Friedensmacher: Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte" (2015).

Im Jahr 2020 erschien ihr jüngstes Buch, "Krieg: Wie Konflikte die Menschheit prägen", das in den USA auf der Bestsellerliste der New York Times stand. Darin setzt sie sich mit der Frage auseinander, wie Menschen Kriege organisieren und durchführen, sowie mit den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die Krieg mit sich bringt.

Im Interview mit der DW äußert sich MacMillan über die möglichen Beweggründe Wladimir Putins, Krieg gegen die Ukraine zu führen, wie die sozialen Netzwerke zu einem neuen Propagandainstrument werden und warum die Kernenergie noch immer eine große Rolle spielt.

DW: Warum wird Krieg so oft von bestimmten Einzelpersonen initiiert, wie im Fall von Putin?

Buchcover | War - How Conflict Shaped Us von Margaret MacMillan
Margaret MacMillans Buch: "War"Bild: Profile Books

Margaret MacMillan: Ich habe noch nie damit übereingestimmt, dass es für Krieg eine biologische Erklärung gibt, also dass Krieg aus einem instinkthaften Trieb zur Gewalt entsteht. Denn Gewalt ist noch kein Krieg. Wenn zwei Männer sich draußen vor der Kneipe prügeln, ist das zwar Gewalt, aber kein Krieg. 

"Bei Putin ist es Gier: Er möchte die Ukraine"

Krieg ist organisiert. Meine Definition von Krieg ist recht eng gefasst: organisierte Gewalt gegen eine andere organisierte Gruppe. Ich denke, Menschen kämpfen oder initiieren Kriege, weil sie etwas wollen. Gier, wie man bei Putin sehen kann - er möchte die Ukraine. Sie ziehen auch in den Krieg, weil sie Angst haben. Die Ukrainer ziehen in den Krieg, weil sie keine Wahl haben. Und dann kommt da noch Ideologie hinzu, das überschneidet sich alles oft.

Ich glaube schon, dass Putin durch einen seltsamen russischen Nationalismus motiviert ist. Menschen sind früher wegen Religionen oder Ideologien in den Krieg gezogen, alles mögliche. Aber oft braucht es jemanden, der sagt: "Ja, wir ziehen jetzt in den Krieg". Wie und wann man in den Krieg zieht, das hängt vom gesellschaftlichen Kontext ab.

Es ist Putins Krieg

In Demokratien kann die Premierministerin oder der Premierminister nicht einfach sagen "Wir ziehen jetzt in den Krieg". Da gibt es Kontrollmechanismen. Auch der US-amerikanische Präsident kann keinen Krieg erklären. Das muss erst mal durch den Kongress. Und in einer Demokratie wäre es sehr unklug, in den Krieg zu ziehen, wenn dieser Krieg unbeliebt ist. Aber in einer Autokratie wie Putins Russland, wo Putin fast die ganze Kontrolle hat, ist das anders. Putin hat zumindest über alle staatlichen Institutionen die Kontrolle, über den Geheimdienst, die militärische Macht, und das Parlament ist nur noch ein Feigenblatt. Dieser Krieg ist seine Entscheidung.

Ich denke wirklich, dass es sich um Putins Krieg handelt. Genauso, wie ich denke, dass der Zweite Weltkrieg Hitlers Krieg war.

Wie wichtig ist die Rolle von Rhetorik und Dialog, wenn es darum geht, Krisen wie diese zu verhindern?

Ich denke, das kann schon sehr wichtig sein, wenn die andere Seite bereit ist, auch glaubhaft zu drohen - das hat der Westen aber nicht getan. Man hat bis zuletzt versucht, eine diplomatische Lösung zu finden. Deshalb sind die ganzen Politikerinnen und Politiker, wie Emmanuel Macron und die britische Außenministerin Liz Truss, nach Moskau gereist und wollten Putin von einer friedlichen Lösung überzeugen. Wer weiß, ob jemals irgendjemand von ihnen gesagt hat: "Wenn Sie das tun, dann..." Aber das ist das Problem mit Demokratien: Sie wissen nie genau, was sie tun werden, bis es so weit ist.

Wie betrachten Sie den neuen "Kampf der Erzählungen" in den Sozialen Medien?

Es gab schon immer einen "Kampf der Erzählungen". Propaganda ist seit jeher ein wichtiges Mittel des Krieges. Denken Sie nur an die Säulen, die die Römer errichtet haben, oder an die Köpfe der Kaiser, die sie auf Münzen prägten. Das sollte die Macht Roms darstellen. Napoleon war sich der Macht von Propaganda sehr bewusst. All die Bilder, die es von ihm gab, wie er auf dem Pferderücken über die Alpen ritt, um nur ein Beispiel zu nennen. Die wurden weit verbreitet, als Machtbeweis, und mit dem Ziel, seine Feinde einzuschüchtern.

Ich denke, dass Propaganda in verschiedenen Spielarten schon immer ein Teil des Krieges war – also der Versuch, die Position des Feindes zu untergraben oder andere Menschen auf die eigene Seite zu ziehen. Es sind die Mittel der Propaganda, die sich ändern, und zwar immer dann, wenn sich auch Technologien ändern. Im Ersten Weltkrieg ließen beide Seiten Flugblätter aus Flugzeugen fallen, so konnte man die andere Seite erreichen. Im Zweiten Weltkrieg bedienten sich beide Seiten Radiosendungen. Und jetzt sind es eben die sozialen Medien, die dazu genutzt werden, den Feind zu schwächen und die eigenen Leute zu mobilisieren.

"Die russische Erzählung wird immer verrückter"

Bisher haben die Ukrainer diesen Informationskrieg definitiv gewonnen, davon bin ich überzeugt. Ihrer Erzählung wird geglaubt – ich denke, sogar in Russland. Es war so effektiv, zum Beispiel gefangene Soldaten zu nehmen und zu ihren Müttern sprechen zu lassen. Oder Facebook dazu zu benutzen, russischen Familien zu zeigen, dass es ihren Söhnen gut geht. Die russische Erzählung wird immer verrückter, wenn ich das so sagen darf.

Die ukrainische Regierung soll aus Drogenabhängigen bestehen? Russland soll in die Ukraine einmarschiert sein, um diese davon abzuhalten, Atomwaffen zu bekommen? Ich meine, die Ukraine hat ihre Atomwaffen freiwillig in den 1990er-Jahren abgegeben. Das scheint mir alles nicht sehr effektiv.

Wie viel Einfluss können Menschen aus der Kulturszene auf Kriegsakteure ausüben?

Sehr wenig, denke ich, während der Krieg herrscht. Sie können Staaten unter Druck setzen, die eine Politik verfolgen, die das Ausland ablehnt. Es gab zum Beispiel einen Boykott im Sport in Südafrika während der Apartheid. Das hatte tatsächlich Auswirkungen auf Südafrikaner, insbesondere auf die, die Sportliebhaber sind, und das sind dort viele. Es gibt denen, die den Boykott ausüben, das Gefühl, dass sie etwas bewirken. Es ist eine Geste. Aber wird es dazu führen, dass die russischen Politiker umdenken? Das ist höchst unwahrscheinlich, denke ich.

Am Freitagmorgen wurde weltweit gemeldet, dass Russland das Atomkraftwerk Saporischschja in der Ukraine attackiert hätte. Es mag zu früh sein, um diese Frage zu stellen, aber kann man aus diesem Vorfall etwas lernen?

Ich hoffe, es wird nicht dafür sorgen, dass mehr Menschen der Atomkraft feindlich gegenüberstehen, denn wenn dieser Krieg einmal vorbei ist, werden wir uns immer noch über den Klimawandel Gedanken machen müssen. Und zwar sehr ernste Gedanken. Und auch darüber, wie wir versuchen wollen, die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) zu stärken. Die haben darum gebeten, Zutritt zu dem Kraftwerk in der Ukraine zu bekommen.

Wir werden ernsthaft darüber nachdenken müssen, ob wir weiterhin Kernkraftwerke bauen möchten, und wie man diese beschützen kann, wenn ein Krieg ausbricht. Aber ich bin der Meinung, dass wir über Kernenergie nachdenken müssen, damit wir nicht mehr abhängig sein müssen von fossilen Energieträgern.

Das Interview führte Brenda Haas.

Adaption aus dem Englischen: Christine Lehnen.