Manuel Sarrazin: Klare Absage an Grenzverschiebungen
7. Mai 2021DW: Herr Sarrazin, seit drei Wochen kursiert ein sogenanntes Non-Paper über eine Neuordnung mit Grenz-Veränderungen auf dem Westbalkan, konkret auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Wie stehen Sie zu derartigen Vorschlägen?
Manuel Sarrazin: Ich bin der festen Überzeugung, dass all diese Gedankenspiele - und meiner Ansicht nach auch Tests - eine klare Absage der Bundesregierung und der Europäischen Union brauchen: Die Grenzen in der Region sind unantastbar und müssen es bleiben. Und ich bin sehr froh, dass Außenminister Heiko Maas das so schön formuliert hat bei seinem Besuch im Kosovo: Die Idee ethnischer Grenzziehungen gehört in den historischen Schredder.
Nun ist es aber so, dass diesmal die Ideen zu Grenzkorrekturen von und mit Unterstützung von EU-Mitgliedern lanciert werden. Da gibt es offensichtlich innerhalb der EU unterschiedliche Positionen und keine klare Absage...
Erstens würde ich sagen, dass schon, als die Debatte über einen Land-Swap zwischen Kosovo und Serbien lanciert wurde, eigentlich klar war, dass sie zwar für eine Zeit vom Tisch genommen wurde - aber, dass bestimmte Akteure vielleicht versuchen würden, zum Ende der Ära Merkel nochmal zu testen, ob die deutsche Haltung wirklich so fest bleibt, wie sie damals von der Kanzlerin festgelegt worden ist.Deswegen ist es zunächst wichtig, dass die deutsche Bundesregierung hier parteiübergreifend eine so klare Haltung einnimmt. Und ich kann es für meine Partei sagen, dass diese Haltung auch bei uns glasklar ist. Und auch Annalena Baerbock hat, beispielsweise anlässlich des Jubiläums des Jahrestages des Massakers von Srebrenica, diese Haltung persönlich nochmal festgelegt.
Das zweite ist, uns wird zwar gesagt, dass dieses Non-Paper nicht von der Regierung Sloweniens stamme. Gleichzeitig gibt es aber Gerüchte, dass bestimmte Personen aus der slowenischen Regierung da durchaus mit dran geschrieben haben könnten. Und ich halte das für eine tatsächlich gefährliche Entwicklung, die beantwortet werden muss mit einem starken Engagement von Paris und Berlin auf dem westlichen Balkan.
Am kommenden Montag (10.05.2021) werden sich die EU-Außenminister wieder einmal mit dem Westbalkan beschäftigen. Nicht nur Slowenien fährt einen eigenen Kurs, auch aus Frankreich und anderen Ländern kommen immer wieder Hindernisse, die Zusagen gegenüber dem Westbalkan einzuhalten, Stichwort: Beitrittsgespräche Nordmazedonien und Albanien oder Visaliberalisierung für Kosovo…
Genau! Ich denke, es ist wichtig, dass die EU-Perspektive nicht nur die Antwort auf die Kriege der Neunziger war, sondern auch eine Antwort sein muss, die glaubwürdig ist, um sich eben den Ideen solcher Non-Paper, den Ideen einer ethnischen Neu-Aufteilung der Region entgegenzustellen.
Die Schwäche der EU wird einerseits durch eine mögliche Zersplitterung der Position der EU dargestellt, aber eben auch durch die fehlende Glaubwürdigkeit dessen, dass wir wirklich den Erweiterungsprozess mit Volldampf vorantreiben wollen. Deswegen ist es extrem wichtig, dass die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Mazedonien stattfinden, und dass wir dort wieder die Glaubwürdigkeit der EU - wenn Versprechen gegeben werden, sie auch zu halten - stärken.
Kosovo hat seit langem die Kriterien, die technischen Voraussetzungen für die Erteilung der Visafreiheit erfüllt. Deswegen setzen wir uns gegenüber der Bundesregierung, aber auch bei unseren europäischen Partnern dafür ein, die Visafreiheit so schnell wie möglich zu erteilen. Das wäre auch ein wichtiges Signal an die Region, dass Fortschritte effektiv möglich sind und auch ein friedensstiftendes Signal in Kosovo hinein.
Doch auch da fehlt der EU-Konsens. Vielleicht braucht man angesichts der internen EU-Blockaden eine neue Herangehensweise für die Westbalkan-Länder?
Ich bin mir nicht sicher, ob wir, nachdem wir das Erweiterungsverfahren jetzt angepasst haben, jetzt neue Verfahren brauchen. Eher denke ich, dass es extrem wichtig ist, dass das Engagement von Deutschland und Frankreich noch einmal neu unterstrichen wird, und dass man auch das Gefühl hat, dass Berlin und Paris eng mit den Partnern in der Region zusammenarbeiten wollen.
Das Zweite, was ich wichtig finde, ist, dass wir unmissverständlich klar machen, dass die EU darum weiß, dass sie versucht, wenn sie Lösungen mit aushandelt, dass diese Lösungen nicht zu einer Verschärfung ethnischer Trennungslinien beitragen dürfen. Und das muss der Maßstab sein, der beispielsweise auch bei dem Handeln der EU in Bezug auf die Wahlrechtsreform in Bosnien und Herzegowina ausdrücklich formuliert werden muss: Jegliche Lösung wird von Brüssel und von den europäischen Hauptstädten daran gemessen werden müssen, ob sie dem Ziel - weniger ethnische Trennung - dient, oder ob sie vielleicht sogar das Gegenteil erreicht.
Vor ein paar Tagen haben 250 Intellektuelle und Meinungsführer aus den Westbalkanländern eine Art Brandbrief veröffentlicht, in dem sie nicht nur eine Absage an Grenzveränderung formulieren, sondern auch der EU vorwerfen, auf die falschen Player zu setzen und die Stabilokraten, die Teil des Problems sind, zu stützen. Stimmen Sie den Autoren zu?
Nun, wir sehen mehr denn je, dass bestimmte politische Akteure in der Region ihre innenpolitischen Agenden nicht mehr prioritär auf das Ziel eines EU-Beitritts ausrichten. Und das ist einerseits natürlich politisch falsch - aber man kann es ihnen zum Teil auch nicht verdenken, wenn sie das Gefühl haben, dass die Belohnung nicht geliefert wird, wenn man die schwierigen, zum Teil auch sehr schmerzhaften Reformprozesse angeht - und dann von der EU nicht die versprochenen Schritte kommen, etwa die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen.
Wir sehen gerade in Bezug auf die Freiheit der Presse, die Pluralität der politischen Landschaften in vielen Ländern der Region in den letzten Jahren eine Rückwärtsentwicklung, die effektiv dem Weg in Richtung EU entgegensteht. Ich denke, wir müssen deswegen als Europäische Union anfangen, in der Region nicht mehr nur in Bezug auf Verhandlungskapitel und Debatten mit den Regierungen zu investieren, sondern mehr auch wieder an dem Mindset der Menschen zu arbeiten: Also in einen direkten Kontakt mit der Zivilgesellschaft vor Ort treten, um sozusagen deren Rolle in den politischen Handlungsprozessen auch gegenüber den etablierten Parteien zu verstärken.
Dafür sind Transparenz und Offenheit natürlich extrem wichtig, gerade, wenn man sich als EU an Verfahren beteiligt, die etwa Wahlrechtsreformen angehen wie in Bosnien. Ich glaube nicht, dass Europa in der Lage ist, Hinterzimmer-Deals zwischen politischen Persönlichkeiten erfolgreich zu verhandeln, weil die alten Haudegen aus der Region in Fragen der Organisation solcher Absprachen meiner Ansicht nach manchmal geschickter sind als europäische Diplomaten. Und das meine ich respektvoll, aber durchaus negativ.
Manuel Sarrazin ist Bundestagsabgeordneter (Bündnis90/Die Grünen) und Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft, der wichtigsten Politikberatungs-Institution für Balkan-Themen in Deutschland.