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PolitikBelarus

"Das Regime ist auf dem Weg ins Nirgendwo"

Bogdana Alexandrowskaja | Mikhail Bushuev
5. Dezember 2021

Eine der Führungsfiguren der belarussischen Opposition hat der DW ein Exklusiv-Interview aus der U-Haft gegeben. Nach einem international kritisierten Urteil drohen Maria Kolesnikowa elf Jahre Gefängnisstrafe.

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Maria Kolesnikowa während der Urteilsverkündung am 6. September 2021
Maria Kolesnikowa während der Urteilsverkündung am 6. September 2021Bild: Viktor Tolochko/SNA/imago images

Seit mehr als einem Jahr sitzt die belarussische Politikerin Maria Kolesnikowa in einer Untersuchungshaftanstalt in Minsk, der Hauptstadt von Belarus. Noch 2020 leitete sie während der vergangenen Präsidentschaftskampagne das Wahlkampfteam des früheren Bankiers Wiktor Babariko. Babariko wurde verhaftet, Kolesnikowa schloss sich dem Koordinationsrat der belarussischen Opposition an, der die Massenproteste in der Republik unterstützte. Diese breiteten sich aus, nachdem Alexander Lukaschenko im August 2020 offiziell zum Sieger der Präsidentschaftswahl in Belarus erklärt wurde. Die Wahl wird international nicht anerkannt.

Die ausgebildete Flötistin Maria Kolesnikowa wurde rasch zu einer der bekanntesten Figuren der Protestbewegung. Die Behörden versuchten im September 2020, Kolesnikowa zur Ausreise aus Belarus zu drängen. Weil die Frau, die viele Jahre davor in Stuttgart als Kulturmanagerin tätig war, sich weigerte, verhaftete man sie.

Maria Kolesnikowa spricht vor einer Menschenmenge in ein Megafon
Nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl im August 2020 kam es wiederholt zu MassenprotestenBild: Getty Images/AFP/S. Gapon

Ein Jahr später wurden sie und ihr Mitstreiter, der belarussische Jurist Maksim Snak, in einem Verfahren wegen angeblicher "Aufrufe zum Sturz der Staatsgewalt" und "Extremismus" zu elf und zehn Jahren Haft verurteilt. Der Strafprozess gilt international als Farce, Deutschland hat mehrfach gefordert, dass Kolesnikowa sofort freigelassen wird. 

"Kolossale Unterstützung und Energie"

Vor der Revision des Urteils, die für den 24. Dezember angesetzt ist, konnte die DW schriftliche Fragen an Kolesnikowa übermitteln. In ihren Antworten berichtet die Oppositionelle von ihrem Leben hinter Gittern und spricht von der politischen Situation in Belarus. In der U-Haft, schreibt Kolesnikowa, fehle ihr "alles: die Luft, die Sonne, meine Flöte, Briefe, Gespräche und eine Duschmöglichkeit. Aber wenn du weißt, warum (du lebst - Anm. der Red.), ist es egal, wie."

Maria Kolesnikowa und Maksim Snak
Maria Kolesnikowa und Maksim Snak: Ihnen drohen elf und zehn Jahre Gefängnisstrafe Bild: Anadolu Agency/picture alliance

Trotz Einschränkungen bei Briefwechseln fühle sie "Fürsorge und Liebe von Menschen in Belarus und auf der ganzen Welt. Das gibt kolossale Unterstützung und Energie". In Deutschland setzen sich beispielsweise der Liedermacher Wolf Biermann und die Grünen-Politikerin Claudia Roth für ihre Freilassung ein.

Das Urteil gegen sie und Maksim Snak bezeichnet Kolesnikowa als "absurd, weil niemand von uns schuldig ist". In Wirklichkeit habe "nur ein Mensch die Staatsmacht an sich gerissen". Sie denke gar nicht daran, um Begnadigung zu ersuchen: "Natürlich kann davon keine Rede sein." Sie könne doch nicht etwas gestehen, was sie nicht getan habe, schreibt die Politikerin.

"Eine Ehre, mit meinem Volk diesen Weg zu gehen"

Kolesnikowa war Teil eines bekannten politischen Frauentrios: Zusammen mit Swetlana Tichanowskaja und Weronika Zepkalo war sie das Gesicht der friedlichen belarussischen Protestbewegung. Zepkalo und Tichanowskaja mussten ihr Land verlassen. Tichanowskaja erklärte vor kurzem, sie sei im Ausland nützlicher als in der Heimat, wo ihr das gleiche Schicksal drohe wie Maria Kolesnikowa.

Weißrussland I Wahlen I Swetlana Tichanowskaja
Veronika Zepkalo (l.), Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa in Minsk im Juli 2020Bild: picture-alliance/AP/S. Grits

Auf die Frage, ob es im Nachhinein betrachtet nicht doch klüger gewesen wäre, sich ins Ausland abzusetzen, antwortet Maria Kolesnikowa, dass sie ihre Entscheidung "kein bisschen bereut". "Die Gefängnisse sind mit ehrlichen, mutigen Belarussen überfüllt, die keine Zeit daran verschwenden, aufzugeben, trotz des phänomenalen Drucks. Mir ist es eine Ehre, mit meinem Volk diesen Weg zur Freiheit und Veränderung zu gehen. Jeder hat seine Rolle in dieser Geschichte", schreibt Maria Kolesnikowa.

Für den Fall, dass sie wieder in Freiheit gelangen sollte, hat sich Kolesnikowa einiges vorgenommen. "Ich habe viele Ideen für Musik- und Kulturprojekte. Zum Beispiel, aus einer Untersuchungshaftanstalt einen Kultur-Hub zu machen". Unter anderem möchte Kolesnikowa ein "Resozialisierungs- und Rehabilitationszentrum für Frauen nach Freiheitsentzug" organisieren.

Lukaschenkos Abgang "nur eine Frage von Zeit und Preis"

Zu dem neuen, von Lukaschenko auf den Weg gebrachten Verfassungsentwurf und zu den vor kurzem unterzeichneten Abkommen zwischen Russland und Belarus meint die Politikerin: "Niemand hat den neuen Verfassungsentwurf gesehen, genauso wie die 28 Unionsprogramme (zur weiteren Integration in den "Unionsstaat", als der Russland und Belarus formal gelten - Anm. der Red.). Kaum zu glauben, dass man mit einer Hand die Zivilgesellschaft und Medien vernichtet, um mit der anderen Hand die Verfassung zu 'demokratisieren' und sich vom Autoritarismus zu distanzieren", meint Kolesnikowa in Anspielung auf Lukaschenkos Versprechen. Das Regime in Belarus habe sich für den Weg ins Nirgendwo entschieden.

Die Landsleute, die momentan im Ausland sind, mahnt sie, die in Belarus zurückgebliebenen Menschen nicht zu vergessen. "Ich bewundere diejenigen, die ausreisen mussten und trotzdem den Kampf um Belarus fortsetzen. Jeder leistet seinen Beitrag zu unserer gemeinsamen Sache. Wichtig ist es, sich nicht von der Realität abzukoppeln und sich bewusst zu machen, dass die Lage ziemlich ernst ist und, wie man sieht, es noch einige Zeit vergeht, bis es zu einer Lösung kommt", schreibt Kolesnikowa.

Sie erinnert daran, dass man bereits "über ein Jahr verloren" habe. Der Abgang Lukaschenkos sei "nur eine Frage von Zeit und Preis, den die Belarussen zahlen werden". Je länger es dauere, desto schlechter sei es für alle - auch für Lukaschenko und sein Umfeld", so Maria Kolesnikowa weiter. "Nichts währt ewig, und auch heute gibt es Kräfte (in der Regierung - Anm. der Red.), die zu konstruktiven Maßnahmen, zum Dialog bereit sind. Denn das Leben der Belarussen, unsere gemeinsame Zukunft, unser gemeinsames Zuhause sind unsere größten Werte. Denen zuliebe muss man Wege aus der Krise suchen.