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Warum Marina Abramović im Museum Kartoffeln schälen lässt

30. Juni 2023

Unter der Leitung von Gastprofessorin Marina Abramović entwickelten 24 Studierende der Folkwang Universität der Künste in Essen Langzeit-Performances. Teil davon: gemeinsames Kartoffelschälen.

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Aleksandar Timotic sitzt an einem Tisch und schält Kartoffeln, dabei singt er Opernarien.
"Bist du hungrig" heißt die Performance von Aleksandar Timotic Bild: Sabine Oelze/DW

Aleksandar Timotić sitzt an einem großen Tisch im Museum Folkwang und schält Kartoffeln. Der 31-jährige Opernsänger aus Serbien wurde ausgewählt, ein Jahr lang am interdisziplinären Performancekurs von Marina Abramović teilzunehmen. Die weltberühmte Künstlerin ist 2022 als erste Pina-Bausch-Gastprofessorin an der Folkwang Universität der Künste angetreten.

Die Professur, benannt nach der weltberühmten Folkwang-Alumna, schafft die Möglichkeit, international herausragende Künstlerinnen und Künstler aus allen Disziplinen als Gastprofessoren für jeweils ein Jahr an die Folkwang Universität der Künste zu berufen. Hier können sie gemeinsam mit den Studierenden neue Arbeitsweisen entwickeln.

"Bist du hungrig?"

Vor Timotić türmt sich ein regelrechter Kartoffelberg. Er hat viel Zeit mitgebracht. Sechs Stunden täglich sitzt er bis zum 9. Juli an diesem Tisch, schält Kartoffeln und singt Opernarien. Er lädt das Publikum im Museum Folkwang ein, sich zu ihm zu setzen, ihm zuzuhören und selbst zum Kartoffelschäler zu greifen.

"Bist du hungrig" heißt die Performance, die Timotić auch als Geschenk der Liebe an das Publikum bezeichnet. Er wisse zwar noch nicht, ob er die sechs Stunden durchhalte, sagt er. Aber Marina Abramović habe ihm beigebracht, keine Angst zu haben und an sich zu glauben. Ein Jahr lang hat die in New York lebende, international renommierte Künstlerin die Studierenden unterrichtet, in vielen Zoomkonferenzen, aber auch in persönlichen Treffen, um die Performances vorzubereiten. 

Disziplin und Willensstärke gefragt

Um einen eisernen Willen zu bekommen, hat Marina Abramović ihren Studenten eine harte Schule verpasst, zu der auch ein einwöchiger "Cleaning the House"-Workshop in Griechenland gehörte. "Das Haus säubern" bedeutet vor allem, körperliche Entbehrungen in Kauf zu nehmen, sich körperlich zu stählen, sich und seine  Bedürfnisse besser kennenzulernen. Sieben Tage dauerte dieses Trainingslager. "Fünf Tage davon gibt es nicht zu essen, reden ist verboten, dafür machen wir körperliche Übungen, um zu verstehen, was Zeit ist, was Präsenz bedeutet, und danach haben wir an dem gearbeitet, was jetzt hier als Ergebnis zu sehen ist", erklärt Marina Abramović. Die sechs Stunden, die ihre Studierenden nun täglich im Museum Folkwang in Essen performen, sind nicht vergleichbar mit ihrem eigenen Einsatz. Berühmt wurde sie, als sie für ihre Retrospektive "The Artist is Present" im Museum of Modern Art im Jahr 2010 600 Stunden lang auf einem Stuhl saß und den unterschiedlichsten Besuchern in die Augen blickte.

Marina Abramovic sitzt für "The Artist is Present" im Museum auf einem Stuhl und blickt einem Mann auf dem Stuhl gegenüber in die Augen
Marina Abramovic saß für "The Artist is Present" tagelang im Museum, ohne zu redenBild: Marco Anelli/Marco Anelli/Courtesy of Marina Abramovic/dpa/picture alliance

In Essen ist Marina Abramović nicht präsent

Die 76-jährige Abramović selbst kann die Performances nur live am Bildschirm verfolgen. Aus gesundheitlichen Gründen ist sie derzeit nicht reisefähig. Voller Stolz erzählt sie, wie sie versucht hat, den Studierenden ein Jahr lang die Erweiterung des Kunstbegriffs, die Einbeziehung des Publikums, Disziplin und Selbstüberwindung - alles Markenzeichen ihrer Kunst - zu vermitteln. Die Ergebnisse werden zum Abschluss der vierten und letzten Arbeitsphase vom 30. Juni bis 9. Juli 2023 im Museum Folkwang erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. "In solchen Langzeit-Performances kann man sich nicht verstellen, man wird verletzlich. So entsteht ein sehr emotionaler Dialog mit dem Publikum, das ist etwas Einzigartiges. Und das zeigen die Kunststudierenden jetzt", so Abramović.

Eigene Erfahrungen in Kunst übersetzen

Ein Stuhl steht vor einer grünen Wand und lädt Besucher ein, Platz zu nehmen. Dahinter spielt Marija Radovanovic in einem grünen Satinkleid auf ihrer Geige. Man kann sie nicht sehen. Eine intime und zugleich sehr öffentliche Situation. "Ich wollte eine Möglichkeit schaffen, dass die Leute einfach nur da sitzen, ohne Handy, einfach nur auf eine Wand schauen, die Augen ausruhen", erklärt sie ihre Idee. Marina Abramović habe sie dabei unterstützt. Im Rahmen des "Cleaning-the-House"-Workshops habe sie gelernt, wie es ist, stundenlang nur dazusitzen und auf ein farbiges Blatt Papier zu sehen. "Ich würde mich freuen, wenn die Leute auch hier länger auf dem Stuhl sitzen und einfach nur zuhören, schauen und denken", sagt sie. 

In einem grün angestrichenen Raum steht die Geigerin Marija Radovanovic in einem grünen Kleid und spielt auf ihrem Instrument.
Marija Radovanovic leidet unter dem Perfektionszwang ihrer BrancheBild: Sabine Oelze/DW

Marija Radavanovic, 2001 in Belgrad geboren, klassisch ausgebildete Geigerin reflektiert in ihrer Performance auch den Druck, unter dem professionelle Musikerinnen wie sie stehen. Immer wenn sie ihren eigenen Ansprüchen nicht genügt, reißt sie eine Saite aus ihrem Bogen und wirft sie auf den Boden. "Besonders Streicher, wenn sie etwas nicht gut machen, wollen sich immer bestrafen, weil der Perfektionismus in diesem Beruf so stark ist, auch bei mir", sagt sie. So wie Marija Radovanovic kommen auch die meisten anderen Performer und Performerinnen nicht aus der bildenden Kunst, sondern aus den Disziplinen Gesang, Regie, Tanz oder Fotografie. Marina Abramović hat sie gelehrt, ihre eigenen Grenzen auszuloten. 

Performances unter Live-Bedingungen

Die 24 sehr unterschiedlichen Performances finden parallel in eigenen kleinen Kojen statt, die Besucher und Besucherinnen wählen ihren eigenen Parcours. Vorbei am Italiener Francesco Marzano, der "Tabula rasa" macht - so der Titel seiner Performance - und aus seinen Tagebüchern laut vorliest, um die Seiten im Anschluss einzeln herauszureißen und zu vernichten. Vorbei an Camillo Guthmann, der sich beim Stepptanz auf Spiegelscherben verletzt.Gleichzeitig posiert Klara Günther auf einem Sockel, beschmiert sich genüsslich mit Rübenkraut, wälzt sich in Federn und verwandelt sich so in ein seltsames Vogelwesen. Marina Abramović ist begeistert, dass sich die Studierenden so weit vorwagen: "Ich fragte sie: 'Wovor hast du Angst?' Sie antwortete: 'Nackt und ein Huhn zu sein.' Ich antwortete: Lass es uns tun. Jetzt ist sie nackt und ein Huhn. Ich wollte sie ermutigen, ihre eigene Geschichte, ihr eigenes Drama zu erzählen", erklärt Abramović. 

Eine mit Federn beklebte Frau liegt am Boden, neben ihr Kopfkissen
Metamorphose zum Huhn: Klara Günther mit Federn bedecktBild: Sabine Oelze/DW
Camillo Guthmann steht hinter ein Glasscheibe und steppt auf den Scherben eines Spiegels
Camillo Guthmann tanzt auf einem ScherbenhaufenBild: Sabine Oelze/DW

"54 Hours" ist ein Workshop unter Live-Bedingungen. Die Studierenden zeigen selbstbewusst ihre wunden Punkte. So nah kommt man der Performancekunst im Museum wohl selten. 

Autorin Sabine Oelze
Sabine Oelze Redakteurin und Autorin in der Kulturredaktion