Mehr russische Raketen über Syriens Norden
30. Juni 2023Jeden Morgen verkaufen Yasser H. und sein Bruder die Erträge der Ernte auf dem Markt in Dschisr al-Schughur im Westen der syrischen Provinz Idlib. Doch dann, an diesem einen Sonntag, sei alles plötzlich sehr schnell gegangen, erzählt der 39-Jährige.
"Während wir auf dem Gemüsemarkt arbeiteten, wurden wir von einem russischen Luftangriff überrascht", sagt er. "Die Szene war schrecklich und grausam. Plötzlich sieht man die Verwundeten und Toten auf dem Boden, und es gibt niemanden, der ihnen sofort hilft.", so Yasser H..
"Wir sind doch Zivilisten, wir sind nur Bauern - nicht mehr und nicht weniger", sagt er. Ahmed Jasigi vom Zivilschutz der Stadt sprach ebenfalls von mehreren Toten. Er verurteilte den Angriff auf einen Markt, "der eine wichtige Einkommensquelle für die Bauern darstellt".
Auch die 25-jährige Haifa aus Dschisr al-Schughur, war an dem Tag in der Nähe des Marktes. Sie konnte sich in Sicherheit bringen. "Aber unser Nachbar hat es nicht geschafft, er ist jetzt tot, dabei hatte er gerade erst frisch geheiratet. Wir sind alle geschockt und traurig."
Bisher höchste Todeszahl in 2023
Mindestens neun Menschen wurden bei dem russischen Luftangriff auf den Markt getötet und Dutzende Menschen wurden verletzt - und es wird erwartet, dass die Zahl der Toten weiter steigt.
Vier weitere Menschen wurden nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in Großbritannien bei einem weiteren Angriff in einem Vorort von Idlib getötet. Unter ihnen war demnach ein extremistischer Kämpfer.
Bei einem dritten Raketenangriff sollen acht weitere Bewaffnete, die Mitglieder der militanten Oppositionsgruppe Hamza Brigade gewesen sein sollen, getötet worden sein. Die Hamza Brigade ist mit der militant-islamistischen Miliz Hayat Tahrir al-Scham (HTS) verbunden.
Noch vor dem Angriff auf die Hamza Brigaden hatte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die sich auf ein Netz von Aktivisten in Syrien stützt, darauf verwiesen, dass durch diese Luftangriffe die bisher höchste Anzahl in Todesopfer in 2023 zu verzeichnen sei. Die Angaben der Organisation sind von unabhängiger Seite oft kaum zu überprüfen.
Die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens, nahe der türkischen Grenze, ist die letzte von syrischen Rebellen und Islamisten gehaltene Region. Sie steht überwiegend unter der Kontrolle islamistischer Milizen der Gruppe Hayat Tahrir al-Scham (HTS), die wiederum aus der Al-Nusra-Front hervorgegangen ist. Etwa vier Millionen Menschen, ein Großteil von ihnen mehrfach Binnenvertriebene, lebt dort unter teils schwersten Bedingungen und in Armut.
Putin will sich stark zeigen
Die syrischen Streitkräfte hätten "in Zusammenarbeit mit den befreundeten russischen Streitkräften präzise Luft- und Raketenangriffe auf die befestigten Stützpunkte terroristischer Organisationen" in der Region Idlib durchgeführt, teilte das syrische Ministerium in einer von der staatlichen Nachrichtenagentur SANA verbreiteten Erklärung mit.
Die Operation sei "als Reaktion auf die täglichen und wiederholten Angriffe auf Zivilisten" in Wohngebieten in der nahe gelegenen Provinz Hama erfolgt, hieß es weiter. Zu den Zivilisten, die auf dem Markt in Dschisr al-Schughur getötet wurden, gab es keine Aussage.
Bente Scheller, Leiterin des Nahost-Referats der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung sieht in den Angriffen der russischen Luftwaffe auch eine Machtdemonstration Russlands, besonders seit der Wiederaufnahme des syrischen Machthabers Baschar al-Assad in die Arabische Liga.
"Da sind lauter Autokraten, die sich gegenseitig darin bestärken, dass brutale Gewalt ein probates Mittel ist, um sich durchzusetzen - das unterstreicht Putin mit den verstärkten Angriffen", so Scheller.
Aber auch der Konflikt zwischen Russlands Präsident Wladimir Putin und dem Anführer der Wagner-Privatarmee Jewgeni Prigoschin könnten eine Rolle gespielt haben: "Seit das private Militärunternehmen Wagner Putin vorgeführt und gezeigt hat, dass es um dessen Stärke nicht so gut nicht bestellt ist, dienen die Angriffe in Idlib vielleicht auch zur Selbstvergewisserung Putins."
Moskau macht Druck auf Ankara
Aber auch ein anderer Grund könnte eine Rolle gespielt haben: Syrische und russische Streitkräfte sind Angriffe auf die Ortschaften in der Region Jabal-Al-Sawiyeh geflogen, die in der von Russland und der Türkei eingerichteten Pufferzone liegen.
Die Türkei kontrolliert die im türkisch-syrischen Grenzgebiet liegende Pufferzone. Sie hat Truppen in Nordsyrien stationiert. Dort besetzt die Regierung in Ankara mit Hilfe syrischer Söldner mehrere Gebiete, die sie völkerrechtswidrig erobert hat, auch um syrische Geflüchtete aus der Türkei dorthin abzuschieben.
Die Türkei hat zudem während des gesamten Krieges in Syrien sämtliche bewaffnete Oppositionelle gegen Assad unterstützt - sehr zum Missfallen der syrischen Führung. Moskau zeigt sich gegenüber Ankara ungeduldig, weil es nicht genug tut, um die Dschihadisten aus der Pufferzone zu vertreiben und dadurch auch eine Annäherung an Damaskus in weitere Ferne rückt, heißt es aus einer diplomatischen Quelle.
Daher macht Moskau jetzt offenbar Druck: "Russland möchte, dass die Türkei ihre Beziehungen mit Syrien normalisiert, denn das wäre noch einmal von viel größerer Signalwirkung Richtung Europa und auch der NATO", sagt Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung.
Damaskus hatte Ende 2022 bei den zuletzt von Russland vermittelten Gesprächen mit Ankara, aber auch bei den Syrien-Gesprächen im kasachischen Astana gefordert, dass die Türkei ihre gewaltige Militärpräsenz aus dem Norden Syriens komplett abzieht. In einer Erklärung der Türkei, Russlands und Irans heißt es, die jüngste Gesprächsrunde in Astana sei "konstruktiv" gewesen und habe "Fortschritte bei der Ausarbeitung des Plans für die Wiederherstellung der Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien" gebracht.
Türkei und Syrien: unterschiedliche Interessen
Doch die türkische Führung und der Machthaber in Damaskus haben derzeit noch unterschiedliche Interessen: "Die Türkei möchte sich nicht aus Syrien zurückziehen, ganz im Gegenteil", so Scheller. Erdogan wolle sogar eine größere Sicherheitszone auf syrischem Boden schaffen. Zudem brauche Erdogan die von ihm besetzten Gebiete, um die Rückführung eines Teiles der 3,6 Millionen syrischen Geflüchteten, möglich zu machen.
"Assad hingegen will jeden Zentimeter syrischen Bodens wieder zurückerobern", sagt die Expertin. Und während die kurdisch-syrische Partei PYD Ankara ein Dorn im Auge ist, und Erdogan die Angriffe auf kurdisches Gebiet in Syrien als Terrorbekämpfung sieht, sieht Assad die PYD eher als Partner, so Scheller. "Für Assad aber auch Russland wäre es im Rahmen einer Annäherung wichtiger, gemeinsam gegen die Idlib kontrollierende islamistische HTS oder andere Kräfte vorzugehen."
Bisher hat die türkische Truppenpräsenz Damaskus und Moskau davon abgehalten, mit voller militärischer Wucht die Rebellenenklave um Idlib herum zurückzuerobern.
Bauer Yasser H. hat seine Freunde und Bekannten auf dem Markt tot und verwundet, auf dem Boden liegen sehen. Er wolle nur in Frieden leben und nicht zum Spielball politischer Interessen werden, sagt er. "Russland macht aber offenbar keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Militärs."