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Mein Deutschland: Bleibt bitte deutsch!

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Danhong Zhang
12. November 2015

Die Bundestagsfraktion der Linken will die Haltepflicht vor der roten Ampel abschaffen. Das würde ein liebenswertes Klischee über die Deutschen zerstören. Darüber ist unsere Kolumnistin Zhang Danhong empört.

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Bahnstreik Deutschland Rote Ampel
Bild: picture-alliance/dpa/R. Hirschberger

Es ist tiefste Nacht. Mutterseelenallein steht ein Deutscher vor einer roten Ampel. Links kein Auto, rechts kein Verkehr. Dennoch setzt er seinen Fuß erst auf die Straße, sobald das grüne Männchen erscheint. Dieses legendäre Bild eines regelbewussten Deutschen ist weltweit bekannt. Es hat sich vor allem im Gedächtnis der Chinesen eingeprägt, da es in fast jedem Artikel auftaucht, wenn es um die typisch deutschen Eigenschaften geht.

Jeden Chinesen bewegt und beschämt diese Szene zugleich. Denn auf chinesischen Straßen herrscht ein einziges Chaos. Dort sind zwar auch an jeder Ecke Ampeln installiert, sie gelten aber in erster Linie für Autofahrer. Fußgänger und Radfahrer nutzen jede Lücke, um die Straßen zu überqueren - niemand achtet dabei darauf, welche Farbe die Ampel anzeigt. Wenn ich dieser Menschentraube folge und bei Rot über die Straße laufe, denke ich manchmal an den Staatsgründer Mao Zedong: Dieses Bild hatte er vielleicht im Kopf, wenn er von der Macht der Masse sprach.

Umerziehung an der Ampel

In meiner Anfangszeit in Deutschland hatte ich mich aus Gewohnheit chinesisch verhalten und mir dabei böse Blicke und sogar manchen Tadel von älteren Damen eingehandelt. Verschämt und schuldbewusst fasste ich den Entschluss, die Einheimischen zum Vorbild zu nehmen. Ich behaupte, dass in diesem Moment meine Integration in die deutsche Gesellschaft angefangen hat.

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DW-Redakteurin Zhang Danhong

Dann wurde ich Mutter. Ich staune, wie kreativ Kinder mit der langweiligen Wartezeit an der roten Ampel umgehen. So schließt meine Tochter oft die Augen und ruft laut: "Grün!" Dann öffnet sie die Augen und freut sich entweder über ihre Zauberkraft - oder sie versucht es noch einmal, bis es klappt. Nun bin ich diejenige, die sich aufregt, wenn sich jemand nicht an die Regeln hält und meine Erziehung konterkariert. Dann erkläre ich meiner Tochter, dass der Onkel entweder farbenblind ist - oder nicht besonders viel Wert auf sein Leben legt.

So viel Zeit muss sein

Nun sind meine Kinder groß. Dennoch bleibe ich wie angewurzelt stehen, wenn das knallige Rot anspringt. Schließlich könnte ein anderes Kind hinter mir stehen, dem ich kein schlechtes Vorbild sein möchte. Ab und zu tut es ein wenig weh, wenn die Straßenbahn just in diesem Moment einfährt und mir dann vor der Nase davon zischt. Aber was soll's - die nächste Bahn kommt ja garantiert.

Andere in Deutschland lebende Chinesen berichten von ähnlichen Erfahrungen. Wir sind integrationswillig. Und wenn die Integration geglückt ist, dann werden wir die besseren Deutschen. Wo kämen wir denn hin, wenn eine Regel zu einer unverbindlichen Empfehlung verkommt?!

Genau auf diese in den Augen der Linken spießbürgerliche Regelversessenheit zielt ihr Antrag. Sie möchten, dass die rote Ampel zu einer Art "Vorfahrt gewähren"-Schild wird. Wenn kein Auto in Sicht ist, darf der Fußgänger oder Radfahrer weiterziehen, ohne bestraft zu werden. Ihr Argument: Anderswo gehe es nicht so dogmatisch zu wie hierzulande. In Frankreich, in Holland, in der Schweiz und demnächst vielleicht auch in Österreich ist ein abweichendes Verhalten in Ausnahmefällen erlaubt. Na und? Der Mut zur Einzigartigkeit darf den Deutschen nicht völlig abhandenkommen.

Der überfürsorgliche Staat

Als einen weiteren Grund für ihren Antrag führt die verkehrspolitische Sprecherin der Linken Sabine Leidig an, dass sie als Fußgängerin und Radfahrerin vom Staat gegängelt werde. Da fallen mir aber andere Beispiele ein, wo der Bürger vom Staat bevormundet wird. Jüngstes Beispiel ist die Mietpreisbremse. Der Vermieter darf bei einem Mieterwechsel den Preis um höchstens zehn Prozent erhöhen. Dabei wären hohe Mieten der beste Anreiz für den Wohnungsbau. Bei einem größeren Angebot würden die Mietpreise automatisch sinken. Ein anderes Beispiel ist das geplante Anti-Stress-Gesetz, das die Arbeitsministerin gerade prüfen lässt. Es soll uns davor schützen, abends dienstliche E-Mails zu lesen. Willkommen in der Mutti-Republik, in der alle vom Staat zwangsbeglückt werden und sich wohl fühlen sollen.

Deutschland Mietbremse Symbolbild
Die Mietpreisbremse bremst den WohnungsbauBild: picture-alliance/dpa/R. Hirschberger

Kann die Opposition nicht da ansetzen, um den Regulierungswahn zu stoppen? Statt sich zum Opfer einer staatlichen Willkür zu stilisieren, könnte die Linke beispielsweise dafür kämpfen, die Macht der Lobbyisten zu begrenzen. Aber sie scheint eine Vorliebe für Signalanlagen zu haben. So hat sich die Linke bereits in der Vergangenheit als Fürsprecherin der Fußgänger und Radfahrer hervorgetan und sich für die Abschaffung der sogenannten "Bettelampeln" an großen Kreuzungen eingesetzt.

So bleibt auch diesmal der Antrag zu den Signalleuchten ein Akt mit Signalwirkung: So schlecht kann es uns nicht gehen, wenn sich die größte Oppositionspartei im Bundestag über so belanglose Themen den Kopf zerbricht.

Glücklicherweise hat der Antrag keine Chance. So wird uns das Bild eines einsamen Deutschen vor einer nicht befahrenen Straße noch lange erhalten bleiben. Zwar hat er etwas Verstaubtes an sich, zwar trifft er als Stereotyp längst nicht auf alle Deutschen zu. Aber er wirkt wie ein Fels in der Brandung und wird dabei helfen, das durch diverse Skandale erschütterte Vertrauen in Deutschland zurückzugewinnen.

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.

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