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Politik

Deutschland, die Türkei und die Flüchtlingsfrage

Kemal Hür
22. Juni 2018

In Deutschland hat die Flüchtlingsfrage eine Regierungskrise ausgelöst. In der Türkei könnten zügig eingebürgerte Syrer Erdogans Wahl sichern. Wir sprechen von Flüchtlingen, vergessen aber die Menschen, meint Kemal Hür.

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DW Quadriga - Kemal Hür
Bild: DW

Die Türkei steht vor einer Schicksalswahl. Am Sonntag wird das Präsidialsystem eingeführt. Aber in erster Linie geht es in dem gespaltenen Land um die Frage: Wird Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der seit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 das Land per Dekret allein regiert, seine Alleinherrschaft zementieren?

In der Türkei leben rund 3,5 Millionen Flüchtlinge. Das Land hat 80 Millionen Einwohner, ungefähr so viele wie Deutschland. In Deutschland beherrscht die Zuwanderung von knapp 1,5 Millionen Flüchtlingen seit 2015 die politische und gesellschaftliche Debatte. Die rechtspopulistische AfD hätte es ohne die teilweise hysterisch geführte Auseinandersetzung mit dem Thema Migration nicht in den Bundestag geschafft.

Die Flüchtlingsfrage stellt nun die Regierung der "Wir schaffen das"-Kanzlerin nach zweieinhalb Jahren vor eine Zerreißprobe. Die Regierungskoalition der größten und stabilsten Volkswirtschaft droht wegen dieser Menschen, die vor Krieg und Elend geflohen sind, auseinander zu brechen.

30.000 syrische Flüchtlinge dürfen in der Türkei wählen

In der Türkei, die dreimal so viele Menschen aufgenommen hat, spielte die Flüchtlingsfrage bislang eine untergeordnete Rolle. Sie wurde außerhalb der Türkei nur dann in der Öffentlichkeit wahrgenommen, wenn Erdogan wieder einmal drohte, erneut die Grenzen zu öffnen und die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge nach Europa durchzuwinken. 

Während sich die deutsche Kanzlerin am Sonntag in Brüssel auf einem Mini-Gipfel um Rückendeckung für ihren europäischen Asylkurs bemühen wird, wird ein Teil der syrischen Flüchtlinge in der Türkei dem nach Alleinherrschaft strebenden Erdogan vielleicht zur absoluten Macht verhelfen. In den vergangenen Monaten wurden 55.000 Syrer eingebürgert, schätzungsweise 30.000 von ihnen sind wahlberechtigt. Eine kleine Zahl gemessen an einer Wahlbevölkerung von über 50 Millionen. Doch Erdogan überlässt nichts dem Zufall, wenn es um seine Macht geht. Die "Erstwähler" wurden in den Hochburgen der prokurdischen HDP an der türkisch-syrischen Grenze angesiedelt. Dort könnten sie die Mehrheiten ändern. Sie sehen Erdogan als ihren Retter und Unterstützer und wollen ihn wählen.

Bosnien Sarajevo Erdogan Wahlkampfveranstaltung
Im türkischen Wahlkampf zählt für Erdogan jede Stimme - Wahlkampfveranstaltung in SarajewoBild: Getty Images/AFP/O. Bunic

Ob alle Flüchtlinge in Erdogan ihren Retter sehen, ist hingegen zweifelhaft. Nur ein kleiner Teil ist in offiziellen Lagern untergebracht und halbwegs versorgt. Die meisten Menschen hingegen leben in prekären Verhältnissen. In Istanbul gibt es Teestuben, in denen junge Syrer ausharren und als Tagelöhner auf Aushilfsjobs hoffen.

Erdogan produziert Flüchtlinge

Erdogan ist ein skrupelloser Machtmensch. Er würde die Flüchtlinge auf der Stelle zurückschicken, könnte er sie nicht gebrauchen. Für ihn sind die 3,5 Millionen Menschen eine Waffe. Er benutzt sie als Drohpotenzial gegen Deutschland oder gegen die gesamte EU. Seit dem Flüchtlingsabkommen mit der EU im März 2016 droht er bei jedem Streit mit der Aufkündigung desselben. Doch noch hält der Pakt. Die EU-Kommission erklärte kürzlich, dass weiterhin deutlich weniger Migranten illegal in die EU kämen als vor dem Abkommen. Das Flüchtlingsabkommen funktioniere.

Was ist es aber, was in der Politikersprache so positiv klingt und "funktioniert"? Die EU gibt einem Despoten, der um seiner persönlichen Macht Willen tausende Menschen ins Gefängnis wirft, weltweit die größte Zahl an Journalisten hinter Gittern hält, Medienhäuser schließt, abertausende Akademiker, Beamte, Angestellte suspendiert, entlässt, mit Berufsverboten belegt - solch einem Mann gibt man sechs Milliarden Euro, damit er die Migration in die EU stoppt. Die EU macht sich damit erpressbar, schweigt, wenn er völkerrechtswidrig in Syrien einmarschiert, Kurden aus ihren Gebieten vertreibt und dort islamistische Milizen und Araber ansiedelt, also einen Bevölkerungsaustausch betreibt.

Konflikt in Syrien
Flüchtlinge aus den syrischen KriegsgebietenBild: picture-alliance/dpa/SANS

Europäische Werte nicht für geflüchtete Menschen

Erdogan löst keine Probleme, er ist ein Problem. Er produziert mit seiner Militärintervention in Syrien noch mehr Flüchtlinge. Vielleicht hat das die unter Druck geratene deutsche Kanzlerin auch eingesehen. Sie sucht jetzt Hilfe in Jordanien und im Libanon. Hilfe für ein Problem, von dem sie vor drei Jahren noch sagte: "Wir schaffen das." Im Grunde hat sie recht gehabt. Die eineinhalb Millionen Menschen haben Deutschland nicht instabil oder ärmer gemacht. Doch der Umgang der Politik und der Medien mit ihnen hat Grenzen verschoben - Grenzen des Anstands in der Debattenkultur.

Wir sprechen nicht über das Schicksal der Menschen, sondern wir begreifen sie als "Flut", "Welle", "Masse" oder "Strom". Wir reden von europäischen und westlichen Werten, schotten uns aber ab vor Menschen, die sich nach genau diesen Werten sehnen. Und die fliehen vor Kriegen, von denen wir durch Waffenverkäufe profitieren. Wir sprechen von Menschenrechten und wollen sie doch nur für uns. Wir sprechen von Wohlstand und wollen andere daran nicht teilhaben lassen. Wir sagen "Fluchtursachen bekämpfen" und planen Fluchtzentren vor den Toren der EU. Wir sprechen von Flüchtlingen, sind sogar anständig genug, den Begriff sprachlich zu verschönern, indem wir "Flüchtende" sagen. Wir bringen es nicht über uns, einfach "Menschen" zu sagen.

Was wir aber nicht sagen, ist, dass wir sie nicht unter uns wollen. Deswegen reist Merkel in den Nahen Osten. Und hofft am Sonntag in Brüssel auf Rückdeckung der EU-Partner, damit ihre Schwesterpartei CSU sie nicht aus dem Kanzleramt jagt, während Erdogan in der Türkei - auf welchem Weg auch immer - vermutlich seine Macht ausbaut. Vielleicht mithilfe der Stimmen jener syrischen Vertriebenen, die er eilig eingebürgert hat.

Die Politik nennt sie Flüchtlinge, und wir leider auch!

Kemal Hür, geboren in Ostanatolien, lebt seit 1980 in Berlin, hat hier Germanistik, Soziologie und Theaterwissenschaft studiert und arbeitet derzeit als freier Journalist hauptsächlich für die Programme des Deutschlandradios.

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