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Politik

Die Enttäuschung nach den Revolutionen von '89

Ivaylo Ditchev
13. September 2019

Die "samtenen Revolutionen" in Osteuropa beflügelten viele Träume, doch es folgte ein mühsamer Transformationsprozess. Die Ernüchterung vieler Bürger spiegelt auch ihre Haltung gegenüber der EU, meint Ivaylo Ditchev.

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Ivaylo Ditchev
Bild: BGNES

Nach 30 Jahren wirken viele Menschen eher enttäuscht über die sogenannten "samtenen Revolutionen" in Osteuropa. Zwar hat sich die Kaufkraft in den meisten dieser Länder nach einem anfänglichen Rückgang von rund 40 Prozent bis heute verdoppelt - in Polen sogar verdreifacht. Für politisch links orientierte Bürger ging der Transformationsprozess zu weit und zerstörte neben der Diktatur auch Gleichheit, Moral und den Staat selbst. Für jene rechts der Mitte war der Transformationsprozess nichts als eine Augenwischerei, durchgeführt von den ehemaligen Kommunisten, mit dem Ziel, politische Macht in Wirtschaftsgüter zu verwandeln. Die allgemeine Unzufriedenheit ermöglichte es neuen Populisten in vielen post-sozialistischen Gesellschaften, die Kontrolle zu übernehmen, indem sie europäische Werte ablehnen, die liberale Demokratie herausfordern, Mafia-ähnliche Praktiken fördern und mit dem religiösen Fundamentalismus kokettieren. Das enttäuschte wiederum die Westeuropäer: Viele von ihnen bereuen heute die einst glorreiche Ost-Erweiterung der EU.        

Es gibt diverse Gründe für diese auf unlogische Weise negative Bewertung eines Prozesses, der ein historischer Erfolg war. Für einige war es die wachsende Ungleichheit, die das wirtschaftliche Wachstum meistens mit sich bringt - oder eher die neue Sichtbarkeit und Messbarkeit von Ungleichheiten, die früher an versteckten Privilegien und Status hingen. Andere begannen, sich unsicher zu fühlen nach der harten Öffnung ihrer Länder für den internationalen Wettbewerb. Oder sie sind frustriert, weil der Nebel der Globalisierung ihre strahlenden Nationalstaaten zu verwässern scheint. Mehrere Beobachter schrieben, dass hinter der Mobilisierung gegen die Immigration im Grunde genommen eine Angst vor der Emigration steckt. Nachdem der kommunistische Stacheldraht verschwunden war, verließ der aktivste Teil der Bevölkerung Osteuropas das Heimatland - bis zu 20 Prozent in Ländern wie Bulgarien und Lettland.       

Politische Diktatur, sozio-ökonomische Anarchie

Die allgemeine Enttäuschung könnte aber auch auf ein Missverständnis in Bezug auf die kommunistische Herrschaft zurückzuführen sein. Diese war als System der absoluten Kontrolle gedacht, was auch der Begriff "Totalitarismus" impliziert. Im Grunde genommen waren die diktatorischen Methoden auch eine Kompensation für das totale Chaos unter der ideologischen Oberfläche. Die politische Diktatur sollte die sozio-ökonomische Anarchie ausgleichen. Falls man vergessen hat, wie ineffizient dieses System war, sollte man sich die Serie des Senders HBO "Chernobyl" anschauen: Dort ist zu sehen, wie mitten in der schrecklichsten Nuklear-Katastrophe der Geschichte keiner da ist, der die Verantwortung übernimmt und eingreift. Dies liegt nicht an den psychologischen Eigenarten konkreter Personen, sondern an einem strukturellen Fehler des Systems. Nachdem das Privateigentum und die Wahl von Führungskräften nach legitimen Kriterien abgeschafft wurden, war die Gesellschaft de facto unregierbar. Stellen Sie sich das vor: Eine moderne Wirtschaft schickte sogenannte "Saboteure" ins Gefängnis, weil sie ihre Aufträge nicht erfüllt hatten, das System war bei der Ernte auf den kostenlosen Einsatz von Studenten angewiesen und musste in Friedenszeiten Menschenleben opfern, damit ein Kraftwerk repariert wird.

Tschernobyl Sperrzone und die Stadt Pripyat
Die Tschernobyl-Sperrzone heute: Die Katastrophe zeigte auch, wie ineffizient und chaotisch das System warBild: DW/D.Kaniewski

Es klingt paradox, aber in gewissen Hinsichten waren kommunistische Gesellschaften freier als die westlichen. Der Arbeiter war frei, etwas aus der Fabrik zu stehlen, der Chef war frei, seinen eigenen Neffen zu befördern. Die Mitarbeiter waren frei, sich an ihren Kollegen zu rächen, indem sie diese heimlich bei den Behörden verpfiffen. Wie konnte man in einem solchen System überleben? Man hat sich angepasst und dem großen Chaos das kleine persönliche Chaos entgegengestellt. Ein beliebter Spruch war: "Ich tue so, als würde ich arbeiten, er tut so, als würde er mich bezahlen." 

"Diese Kommunisten in Brüssel!"

Betrachten wir die "samtenen Revolutionen" nun vor dem Hintergrund dieser Charakteristika des kommunistischen Systems: chaotisch, voluntaristisch, unregierbar. Sie waren von einer Leidenschaft für die Freiheit motiviert, erwiesen sich aber als Weg zu einer besseren Kontrolle über die betreffenden Gesellschaften. Ein Paradoxon, das Hegel als "List der Vernunft" bezeichnet hätte. Stellen Sie sich vor, man hätte den streikenden Arbeitern der Danziger Werft gesagt, dass ihre Fabrik nach dem Sieg über den Kommunismus privatisiert wird und 90 Prozent von ihnen den Arbeitsplatz verlieren. Letztendlich ist es sicherlich vorzuziehen, in einer geordneten Gesellschaft zu leben - und auch diese Arbeiter führen heute insgesamt ein besseres Leben als früher. Trotzdem wäre der revolutionäre Drang von Enttäuschung überschattet gewesen, wenn sie alle Folgen der Revolution gekannt hätten.        

Normalerweise sind es autoritäre Regierungen (ob man sie gut findet oder nicht), die einer Gesellschaft die Ordnung aufzwingen, so wie es beispielsweise in Singapur war, oder auch im Fall der widerlichen Militärjunta in Chile. Die Bulgaren erinnern sich vielleicht an einen Text des Dissidenten und ersten demokratischen Präsidenten Schelju Schelew, in dem er argumentierte, dass die Rolle der "Militärdiktatur", die einen friedlichen, geordneten Transformationsprozess gewährleistet, in Osteuropa von der EU gespielt wurde! Ich weiß nicht, wie ernst wir diese Idee nehmen sollten, aber sie gibt uns zumindest ein Gefühl dafür, wie ambivalent die Haltung gegenüber der Europäischen Union ist, die zwar Freiheit versprach, aber langfristig Regeln eingeführt hat. "Diese Kommunisten in Brüssel", hört man oft in Osteuropa. Ja, man stellt sich die Befreiung als schnellen und unwiderruflichen Vorgang vor, animiert von Träumen und Leidenschaften. Doch die Normalisierung der Gesellschaften nach dem kommunistischen Wirrwarr konnte nur langsam, langweilig und mühsam sein.      

Ivaylo Ditchev ist Professor für Kulturanthropologie an der Universität Sofia in Bulgarien. Er hat unter anderem in Deutschland, Frankreich und den USA gelehrt.