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GesellschaftEuropa

Durch Corona sind wir alle alt geworden

Lavinia Braniste
14. November 2020

In der Pandemie fühlen sich auch junge Menschen alt, weil sie merken, wie verletzlich sie sind, meint die rumänische Schriftstellerin Lavinia Braniște. Der eigene Körper könnte jeden verraten, und Pläne scheinen sinnlos.

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Junge Menschen mit Mundschutz in Köln
Bild: Christoph Hardt/Geisler-Fotopres/picture-alliance

Vor zwei Wochen habe ich mehrere ehemalige Mitschüler aus der Oberstufe getroffen, die in unsere Heimatstadt gekommen waren. Hier scheint uns das Leben erträglicher - aus dem einfachen Grund, dass unsere Eltern hier Häuser mit Garten haben. Diese Dinge haben inzwischen einen unermesslichen Wert. Für einige von uns wirkt es unmöglich, solche Ziele aus eigener Kraft zu erreichen - vor allem nicht in einer großen Stadt.     

Zwei meiner früheren Mitschüler habe ich seit dem Abitur nicht mehr gesehen, weil sie in andere Länder gezogen sind, doch sie können im Homeoffice arbeiten, also sind sie für eine Weile wiedergekommen. So sehr mich auch der Gedanke an dieses Wiedersehen freute - mein Herz galoppierte den ganzen Tag, weil ich endlich ausgehen würde, nicht in die Stadt, sondern in jemandes Hof - , so seltsam waren die ersten Momente des Treffens. An der Art der Begrüßung war sofort abzulesen, wie jeder zur aktuellen medizinischen Lage steht. Einige blieben vorsichtig auf Distanz und winkten, andere begrüßten sich mit dem Ellbogen, ein anderer stürzte sich fröhlich auf uns, um uns zu umarmen, was aber nicht bei allen geklappt hat. Obwohl unser Alter gleich ist, hatte ich in jenen Momenten das Gefühl, dass einige jünger waren als die anderen.

Zuerst hieß es, die Jungen verbreiten das Virus, ohne es zu wissen

Ich hatte gehofft, dass wir nicht allzuviel über die Pandemie sprechen würden, doch selbstverständlich dominierte dieses Thema das Treffen. Auf dem Tisch, zwischen Flaschen und Schälchen mit Erdnüssen, waren Gefäße mit Desinfektionsmittel verstreut. Unsere Stühle stellten wir so auf, dass eine bestimmte Distanz zwischen ihnen war, doch das bedeutete, dass wir uns nicht besonders gut hörten und lauter sprechen mussten. Und man weiß, dass man noch stärker Speichel-Tröpfchen verstreut, wenn man laut spricht. Vor kurzem las ich einen Artikel, der Ansteckungsrisiken in verschiedenen Situationen analysierte, und die Schlussfolgerung war irgendwie, dass es am besten sei, wenn bei Treffen mit Freunden überhaupt nicht gesprochen wird. Wer weiß, was herausgeflogen kommt, sobald man den Mund aufmacht. Wir könnten im buchstäblichen Sinne mit schmutzigen Worten um uns werfen. Und in einem geschlossenen Raum ist das umso schlimmer.

Nicht einmal ein Jahr ist vergangen seit den ersten besorgniserregenden Anzeichen für die Ausbreitung des Virus, doch viele Aspekte unseres Lebens wurden schon rekonfiguriert. Von Höflichkeitsnormen bis hin zur Wahrnehmung unseres Alters. In den ersten Monaten hieß es, die Krankheit würde junge Menschen verschonen, folglich seien diese nicht vorsichtig genug. Man zeigte mit dem Finger auf sie, weil sie das Virus verbreiten, ohne es zu wissen. Inzwischen sind genug Junge erkrankt und dieser Diskurs hat sich etwas gemäßigt. Wir sind alle alt geworden - nämlich verletzlich. Ich war jung, solange ich alleine wohnte, in den ersten Monaten der Pandemie, aber dann bin ich nach Hause zurückgekehrt und habe das Alter der Menschen angenommen, mit denen ich jetzt zusammenlebe. 

Wir erleben eine fluide und schwankende Zeit, in der Daten, die von einem Tag auf den anderen gesammelt werden, konstant die Statistiken verändern. Nichts ist mehr sicher in unserem Alltag, Pläne haben keinen Sinn mehr. Ständig müssen die Verlautbarungen der Behörden verfolgt werden. Und diese Behörden taumeln und stolpern vor sich hin. 

In unserer Region kämpft jeder für sich allein 

Seit ich 13 war, leide ich an einer moderaten Kurzsichtigkeit, ohne Brille lebe ich in einer ziemlich nebligen Welt. Wenn ich meine privaten Räume verlasse und die Maske aufsetzen muss, verzichte ich auf die Brille, weil sie lästigerweise immer beschlägt.

Lavinia Braniște lebt und arbeitet in ihrem Heimatland Rumänien
Die Schriftstellerin und Literaturübersetzerin Lavinia Braniște lebt und arbeitet in ihrem Heimatland Rumänien Bild: Adi Bulboacă

Deshalb ist mein pandemisches Universum konfus und diffus, voller Stimmen, von denen ich machmal nicht weiß, woher sie kommen. In diesem Universum schwächt das Fehlen eines Sinnes auch die anderen. Es scheint, als würde das auch meine Intelligenz ein wenig schmälern: Es ist mir schon passiert, das ich mich mehrmals beim Geldzählen vertue, wenn ich einkaufen muss. Manchmal gehe ich bei Rot über die Straße, obwohl ich die Farbe der Ampel erkenne, doch ich habe das Gefühl, dieses Signal einfach nicht mehr verarbeiten zu können. 

Das ist das Bild, das ich mit der Pandemie verbinden werde - auch nach ihrem Ende: eine neblige, konfuse Zeit, mit dummen Gefahren auf Schritt und Tritt, wie zum Beispiel ein Loch im Asphalt, in dem du dir den Knöchel verstauchen kannst. Eine Zeit, in der jeder für sich kämpft, so wie es in unserer Region immer ist, wenn wir Krisen durchmachen. Denn der Staat ist unfähig, sich um seine eigenen Bürger zu kümmern - am wenigsten um die kleinen und schwachen. Eine Zeit, in der es am wichtigsten ist, deine Kräfte zu sammeln, damit dein Fuß genau an der richtigen Stelle ist, ein Schritt nach dem anderen, so dass du nicht hinfällst. Vor allem, wenn auch andere Menschen von dir abhängig sind.

Wir sind alle in Gefahr 

Es gibt viele Dinge, die wir in dieser Zeit nicht klar sehen, weil es uns nicht möglich ist, die vollständigen Informationen zu erfassen. Dinge, die mit der Verbreitung des Virus und dem Rennen um den Impfstoff zu tun haben, mit der beschleunigten Massenüberwachung, mit der Entwicklung der Schreib- und Lesekompetenzen eines Zweitklässlers, der ein Jahr lang nur Online-Unterricht hat, mit unzähligen anderen Folgen der Schockwellen der Anti-Corona-Maßnahmen, die in alle sozialen Schichten reichen. Die meisten von uns sind in vielen Bereichen kurzsichtig - und es ist uns gar nicht möglich, anders zu sein.

Auf die schwierige und komplexe Frage, wie junge Menschen durch diese Krise kommen, habe ich keine knappe Antwort. Wahrscheinlich gibt es Institutionen, die über aktuelle Statistiken zur Infektionsrate nach Altersgruppen verfügen, über Arbeitslosenzahlen und Daten zur sinkenden Kaufkraft. Unser Alter findet sich auf einer Achse dieser Grafiken wieder. Doch selbst, wenn ich Zugang zu all diesen Daten hätte, wäre es mir immer noch schwer, sie zu lesen. Mein Eindruck ist, dass es nicht mehr so wichtig ist, wie alt wir sind, denn du könntest auch ein "Junger-Mensch-mit -versteckten-Krankheiten" sein. Du weißt nicht, auf wie viele Arten dein eigener Körper dich verraten kann. Wir sind alle in Gefahr. Nicht das Alter unterscheidet uns jetzt, sondern eher die wirtschaftliche Situation. In gewisser Weise hat man als Rentner mehr Sicherheit: Die Zeit ist vorbei, in der man Gefahr lief, für den Arbeitgeber verzichtbar zu werden. Oder als unwichtig zu gelten, wenn man in einem "nicht systemrelevanten" Bereich wie der Kultur tätig ist (dieses ist im Grunde genommen die Botschaft, die bei uns ankommt).

Die Zukunft, ein Hirngespinst 

Gestern sagte mir ein Nachbar, wenn er "der Chef der Welt" wäre, würde er alle für anderthalb Monate im Haus halten, und dann wären wir das Virus los. Ich hätte gerne den Optimismus dieses Menschen, der überzeugt ist, dass es einfache Lösungen gibt. Es macht mich neugierig, gegen wen sich seine Wut richten könnte, denn in uns allen kocht etwas, doch das Gespräch ist schnell abgebrochen. Anderthalb Monate - das wirkt wie ein Augenblick, doch unter den jetzigen Umständen wäre es bestimmt nicht so. Die Zeit hat sich erweitert, sie ist fast erstarrt, der März wirkt schon wie aus einem anderen Leben. So leben wir in diesem Nebel, in dem uns nur noch übrig bleibt, uns vorsichtig zu bewegen, von Nah zu Nah. Hier ist die Zukunft zu einem Hirngespinst geworden, egal, wie jung man bist.

Lavinia Braniștes erster Roman "Interior zero" wurde 2016 in Rumänien zum besten Roman des Jahres gewählt. 2018 erschien die deutsche Übersetzung unter dem Titel "Null Komma Irgendwas" im mikrotext-Verlag, Berlin. Ihr zweiter Roman "Sonia ridică mână“ ("Sonia hebt die Hand“) erscheint Anfang 2021 in deutscher Übersetzung.

Übersetzung aus dem Rumänischen: Dana Alexandra Scherle