Mein Europa: Neubeginn auf dem Westbalkan
11. Dezember 2021Bereits zweimal hintereinander in den vergangenen zwei Wochen gingen tausende Serben an Sonnabenden auf die Straße und blockierten landesweit Brücken, Autobahnen und Verkehrsknotenpunkte, um gegen ein Gesetz zu protestieren, das Enteignungen erleichtern soll. Der Hintergrund: Das multinationale Bergbauunternehmen Rio Tinto will in Westserbien eine riesige Lithium-Mine errichten, mit potenziell fatalen Folgen für die Umwelt. Unterstützt wird der Konzern dabei vom Regime des serbischen Staatspräsidenten Aleksandar Vucic. Bilder der ersten Demonstrationen Ende November zeigten vermummte Schlägertrupps, die mit Schlagstöcken gegen die Demonstranten vorgingen. Offensichtlich wurden sie von der Regierung vorgeschickt.
Diese Bilder kamen mir nur allzu bekannt vor. Bereits vor fünf Jahren hatten maskierte Männer mit Baumaschinen Häuser in der Belgrader Innenstadt mitten in der Nacht abgerissen, um Platz für ein riesiges Bauprojekt namens "Belgrade Waterfront" zu machen. Das hat seither mit Geldern und intransparenten Deals aus den Vereinigten Arabischen Emiraten das Ufer der Sava mit Hochhäusern verschandelt.
Schlägertrupps schützten auch das Portrait früheren bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladic, das plötzlich im Sommer an eine Hauswand in Belgrad gemalt wurde. Hooligans vereitelten jeden Versuch von Belgradern, darunter auch von Kollegen und Freunden von mir, diese Verherrlichung eines rechtskräftig verurteilten Kriegsverbrechers zu entfernen. Diese jungen Männer mit Hoodies, die oft bei Fußballspielen herumgrölen, sind längst zu den Handlangern des Vucic-Regimes geworden.
Prestigeträchtige Projekte, internationale Unterstützung
In Serbien geht die Angst um. Es gibt kaum noch unabhängige Medien, Kritiker werden in den Schmutz gezogen und der Opposition wird Landesverrat vorgeworfen. Wenn ich die Regierung in Serbien kritisiere, werde ich schon mal als "albanischer Lobbyist" bezeichnet. In einem solchen Klima trauen sich längst nicht mehr alle, ihren Unmut auszudrücken. Umso ermutigender sind die gegenwärtigen Umweltproteste gegen das Lithium-Bergbauprojekt, die bisher größten gegen Vucics Regime in den vergangenen Jahren. Sie sind auch deshalb wichtig, weil sie nicht nur in Belgrad, sondern auch in anderen, kleinen Städten stattfinden, in denen der Zugang zu kritischen Stimmen noch schwieriger ist.
Zugleich ist es fatal, dass viele Serben glauben, und das nicht zu Unrecht, Vucic könne sich auf die Unterstützung des Westens verlassen, vor allem auf die von Deutschland. Viele vermuten, dass die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel die Lithium-Mine unterstützte. Immerhin soll dort der Rohstoff für Batterien von Elektroautos, auch "Made in Germany", abgebaut werden. Dem serbischen Präsidenten Vucic gelingt es, sich durch solche prestigeträchtigen Projekte internationale Unterstützung zu sichern.
Abgleiten Serbiens mit deutscher Unterstützung
In ähnlich intransparenter Weise wie das Lithium-Bergbauprojekt soll auch der Bau der U-Bahn in Belgrad an ein französisches Konsortium gehen. Investoren aus China und den Vereinigten Arabischen Emiraten konnten durch undurchsichtige Deals Fabriken und wertvolles Land in Belgrad bekommen. Russland wiederum darf den Energiesektor dominieren. Es geht bei diesem Spiel nicht nur um wirtschaftlichen Einfluss, Umweltzerstörung oder Korruption, sondern auch um die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union. Russland oder China haben kein Interesse an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Aber in Deutschland sollte diese nicht so leicht vergessen werden.
Man kann inzwischen mit Fug und Recht sagen, dass Serbien in eine Diktatur abgeglitten ist. Dieses Abgleiten Serbiens geschah auch mit deutscher Unterstützung. Angela Merkel hat Vucic immer wieder unter die Arme gegriffen. So empfing sie ihn nur wenige Tage vor seiner Wahl zum Präsidenten im April 2017 im Bundeskanzleramt in Berlin. Zu Recht wurden die Fotos vom Treffen als Unterstützung des Kandidaten gesehen.
Zehn Jahre Vermittlung, keine Lösung
Die neue Bundesregierung hätte jetzt die Gelegenheit für einen Neubeginn in der deutschen Westbalkan-Politik. Vucic hat die unkritische Haltung gegenüber seiner Person und seiner Herrschaft dazu ermutigt, die Medien immer weiter zu gängeln. Mittlerweile sind alle großen Medien Serbiens auf absoluter Regierungslinie. Von 168 Gemeinden im Land kontrolliert die Regierungspartei mit ihren Verbündeten 161, außerdem ausnahmslos alle staatlichen Institutionen.
Lange gaben sich Deutschland und die EU der Illusion hin, Vucic sei der ideale Partner für einen Kompromiss mit Kosovo. Doch auch nach zehn Jahren Vermittlung ist die EU einer Lösung nicht näher gekommen. Stattdessen hat Vucic vor drei Jahren gezeigt, was er will, nämlich Grenzänderungen. Er kam dem Ziel zeitweise gefährlich nahe, auch dank der Unterstützung des früheren US-Präsidenten Donald Trump, einigen EU-Mitgliedsstaaten und auch der ehemaligen EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini. Glücklicherweise ließ sich Merkel nicht davon überzeugen.
Deutschland kein Verbündeter für mehr Demokratie
Jedoch kann Vucic gut mit dem Status Quo leben. Sich von einem Autokraten wie ihm in der Hoffnung hinhalten zu lassen, er würde irgendwann einem Kompromiss mit Kosovo zustimmen, ist naiv. Hier wäre es wichtig, wenn die neue Außenministerin Annalena Baerbock eine kritischere Linie einnähme und damit das Vertrauen der Bürger Serbiens in die EU wiederherstellte.
Während ich auf Protesten in der Vergangenheit in Serbien und anderen Staaten des Westbalkans immer wieder auch EU-Fahnen gesehen und pro-europäische Botschaften vernommen habe, sind diese nun verschwunden und verhallt. Viele sehen Deutschland und die EU als Bewahrer des Status Quo, nicht als Verbündete für mehr Demokratie. Auch dass die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrem Besuch in Belgrad vor gut zwei Monaten wortreich die Reformen der Regierung lobte, machte die EU nur unglaubwürdiger. Letztlich schadet die kritikscheue Haltung der EU und Deutschlands den Menschen Serbiens, die sich zunehmend im Stich gelassen fühlen. Deshalb ist es ermutigend, wenn der neue deutsche Koalitionsvertrag einfordert, die Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedsländern zu stärken. Diese Klarheit kann auch beim EU-Integrationsprozess der Westbalkan-Region helfen.
Nationalismus nicht mehr belohnen
Die neue Bundesregierung sollte nicht nur mehr Klarheit, sondern auch mehr Mut aufbringen, den festgefahrenen Beitrittsprozess wieder in Bewegung zu bringen. Der Koalitionsvertrag spricht sich für die bestehenden Ziele deutscher EU- und Westbalkanpolitik aus, also für einen Beginn der Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien, die zurzeit durch Bulgarien blockiert werden, für eine Visa-Freiheit für Kosovo, blockiert durch die Niederlande und Frankreich, und für den Dialog zwischen Serbien und Kosovo. Das sind alles hehre Ziele, aber die Frage ist, ob die neue Regierung genug politisches Kapital und Energie investieren wird, wirklich etwas voranzubringen.
Eine Fortsetzung der bisherigen Linie wäre fatal, da außer Absichtserklärungen nichts passieren wird. Einerseits muss Deutschland, gemeinsam mit anderen EU-Staaten, stärker und deutlicher auf jene Mitglieder einwirken, die den Beitrittsprozess blockieren. Gerade die bulgarische Blockade Nordmazedoniens erfordert eine klare Linie seitens der 26 anderen EU-Mitglieder. Bulgarien fordert von Nordmazedonien, dass es die eigene Sprache und Geschichte als eine Variante der bulgarischen anerkennt. Das ist genau der Nationalismus, den die EU überwinden muss, anstatt ihn zu belohnen. Ein Veto eines EU-Mitgliedslandes gegen den Beginn von Beitrittsgesprächen auf dieser Grundlage ist für die Glaubwürdigkeit der EU peinlich. Auch muss Deutschland Skeptiker im Hinblick auf die Visa-Liberalisierung für Kosovo überzeugen. Es gibt Partner in der EU und auch in den USA für eine solche klare Linie, aber ohne die aktive Beteiligung Deutschlands werden Durchbrüche nicht gelingen. Die erste Gelegenheit für die neue Bundesregierung, ihr Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in die Tat umzusetzen, wird auf dem Westbalkan sein.
Florian Bieber ist Professor für Südosteuropäische Geschichte und Politik an der Karl-Franzens-Universität Graz. Er koordiniert die "Balkans in Europe Policy Advisory Group" (BiEPAG), eine Initiative zur Politikberatung, die sich für eine Demokratisierung und EU-Integration der Westbalkan-Region einsetzt.