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Mein Europa: Was bedeutet "Zuhause" in Corona-Zeiten?

Lavinia Braniste
4. September 2020

Die rumänische Schriftstellerin Lavinia Braniște war mit einem Stipendium in der Schweiz, als in Europa Grenzen geschlossen wurden. Wie konkret die Bedrohung durch COVID-19 ist, erlebte sie direkt nach ihrer Rückkehr.

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Autorin Lavinia Braniste
Bild: Adi Bulboacă

Als mir mein Cousin die Nachricht über seinen positiven COVID-Test und seine sofortige Einlieferung ins Krankenhaus schickte, konnte ich mich nicht mehr rühren. Mehrere Stunden habe ich damit verbracht, ins Leere zu starren. Ich sah bereits, wie wir alle der Reihe nach sterben würden, die ganze Familie. Ich sah sogar die Reihenfolge, in der wir sterben würden – ich als Vorletzte und meine Großmutter als Letzte, also fragte ich mich, wer sich um sie kümmern würde, wenn ich tot bin. Dann erwachte ich plötzlich aus diesem Zustand, als ich erkannte, dass meine Tante – die Mutter meines Cousins – noch am Abend zuvor bei uns gewesen war. Fieberhaft begann ich, die Türklinken mit Äthylalkohol zu putzen. Und ich entsorgte die Tasse, aus der sie getrunken hatte.     

Was kannst du tun, wenn das Ende der Welt zu dir nach Hause kommt?

Meine Großmutter weinte ununterbrochen aus Mitleid mit dem Cousin, und das machte mich ein wenig eifersüchtig, obwohl sie regelmäßig auch aus Mitleid mit mir echte Tränen weinte, weil ich kein Glück im Leben hatte.

Da in den Krankenhäusern in Galati, der Stadt, in der mein Cousin wohnt – der inzwischen Fieber hatte und sich seit Tagen elend fühlte - nicht mehr genug Platz war, wurde er mit dem Krankenwagen in eine Klinik in Tecuci gebracht, einer kleineren Stadt aus demselben Bezirk. In jenen ersten Momenten war mir nicht klar, was noch entsetzlicher war: die Tatsache seiner Erkrankung oder dass er in ein Krankenhaus in einer kleinen Provinzstadt gebracht wurde? Was ist dieses Tecuci überhaupt? Wie ist es dort?

Ein Virus als Apokalypse

Später habe ich erkannt, dass all unsere Gemütszustände und Gefühle an jenen Tagen stark davon geprägt waren, was wir bis dahin im TV-Programm gesehen und in der Presse gelesen hatten. Von dem Ton, in dem alle Informationen präsentiert wurden.

Dieses Virus war die Apokalypse. Und sie widerfuhr uns.

Und dann begann mein Cousin, uns per Videocall aus seinem eisernen Krankenhaus-Bett anzurufen. Dieses erinnerte mich an mein eisernes Bett aus meinem früheren Studentenwohnheim. Ich weiß nicht, ob er im Krankenhaus eine alte Tür unter der Matratze hatte, so wie ich im Wohnheim, aber er war immerhin optimistisch und fühlte sich gut aufgehoben. Er sagte uns, die Ärzte seien genauso gekleidet wie im Fernsehen, in jenen Schutzanzügen, wegen denen man nicht einmal ihr Gesicht sehen kann. Jeden Tag, zu jeder Mahlzeit, servierte man ihnen etwas mit Hähnchenschenkeln. Ich dachte mir, dass die Hähnchenschenkel-Firma wahrscheinlich mit dem Bürgermeister befreundet war. In Rumänien kannst du gar nicht anders, als an so etwas zu denken.

Aber vielleicht sollten wir nachsichtiger zu uns selbst sein.

Den ersten Teil der Pandemie verbrachte ich in einem anderen Land, in einer luftigen Welt, in der du irgendwie überall genug Platz hattest, um Abstand zu halten, in der du alle zwei Schritte unerschöpfliche Quellen an Desinfektionsmitteln finden konntest. Hier, in Rumänien, habe ich ständig das Gefühl, dass wir eingeengt sind. Jahr für Jahr sind wir immer weniger (die Bevölkerung Rumäniens verringert sich wegen der Massenemigration, Anm. d. Red.), wieso ist es dann überall so voll? Aber vielleicht ist das Gedränge ein Gemütszustand. Vielleicht werde ich einfach alt.

Ein Corona-Patient wird ins Krankenhaus transportiert
Medizinisches Personal in Schutzanzügen, das in Rumänien im März einen Covid-Patienten ins Krankenhaus transportiert Bild: Reuters/Inquam Photos/V. Simonescu

Die Familie stürzte sich auf mich, um mich zu umarmen 

Im März war ich an einem Ort, wo es mir zum ersten Mal wirklich klar wurde, wie ein Land aussieht, dessen Bürger den Behörden vertrauen und der Pandemie mit Gelassenheit begegnen. Es war ein Privileg, mit einem Schriftsteller-Stipendium dort zu sein. Krank vor Sorge um meine Familie in Rumänien und meine Mutter in Spanien, dachte ich trotzdem an nichts Anderes, als dass ich Zuhause sein will. Mit meiner Familie und meinen Freunden sprach ich öfter als sonst, auf Skype verabredete ich mich zum Abendessen und zum Plausch mit ehemaligen Kolleginnen aus der Uni, die ich seit unserem Abschluss nicht mehr alle gleichzeitig gesehen hatte. Es war schön und hat uns sehr geholfen, in Kontakt zu sein. Doch es war nicht real.

Ende Juli kehrte ich nach Hause zurück. Im Flugzeug füllte ich eine Erklärung mit meinen persönlichen Daten aus (und eine schriftliche Verpflichtung, dass ich die Bemühungen der Behörden im Kampf gegen die Pandemie nicht sabotieren werde), die ich am Flughafen hätte abgeben müssen. Doch dort hat sie niemand eingesammelt. Im Kleinbus vom Flughafen in die Stadt sagte uns der Fahrer, wir sollten die Masken griffbereit haben, falls die Polizei ihn anhält.

Als ich Zuhause ankam, stürzte sich meine Familie auf mich, um mich zu umarmen, denn es wäre eine Beleidigung gewesen, auf Distanz zu bleiben. Am Abend, beim Schlafengehen, nachdem ich das Licht ausgeschaltet hatte, schien das noch am selben Morgen verlassene Land sehr weit hinter mir zu liegen, so als käme die Erfahrung jener Monate aus einem anderen Leben. Hier, in Rumänien, durchlebt jeder die Pandemie in seinem eigenen Stil. Später wird das witzig wirken, wenn wir das Glück haben, dass es nicht zu tragisch ist.

Die Sorge war ein Teil von uns 

Zwei Tage nach meiner Ankunft wurde mein Cousin ins Krankenhaus eingeliefert. Das bestätigte die Tatsache, dass die Dinge hier anfingen, schlechter auszusehen als im restlichen Europa. Doch es war nicht das Ende der Welt. Täglich konnte ich mit ihm sprechen. Am ersten Tag hatte ich noch den Eindruck, wir würden alle sterben, doch am fünften oder sechsten, als ich immer seine Zimmernachbarn telefonieren hörte, kam ich auf ganz andere Gedanken: Wenn du im Krankenhaus liegst, ist es unmöglich, ein Buch zu lesen, weil alle Welt telefoniert! Dann wurde mein Cousin entlassen, er konnte sein normales Leben wieder aufnehmen. Man sagte ihm, er werde noch sechs Monate lang husten.

Nach ihm erkrankte seine Mutter und alles ging für uns wieder von vorne los. Diesmal waren wir zwar weniger verzweifelt, aber erschöpft vom dauerhaften Alarmzustand. Die Sorge drehte sich ständig weiter in unserem Hinterkopf, sie war ein Teil von uns, es scheint schon, als wären wir mit ihr geboren. Wir haben neue Reflexe, eine neue Art von Aufmerksamkeit: wen und was fassen wir an, welchen Abstand halten wir, auch in der Familie? Wie sicher ist es, mit jemandem am Tisch zu sitzen, der gerade von einer langen Reise kommt? Das Unbehagen, das du empfindest, wenn du nicht genug Platz hast zum Abstandhalten. Das Unbehagen, wenn du dich dabei ertappst, andere zu verurteilen für Verhaltensweisen, die du auch selber an den Tag legst. 

Was hat sich durch Corona verändert? 

Ich weiß nicht, ob uns diese Erfahrung auf globaler Ebene verändern wird. Während der Quarantäne, im März und April, gab es eine kurze Zeit von einigen Wochen, in der die Kohlenstoff-Emissionen reduziert wurden – auf eine Weise, die man vorher nicht für möglich gehalten hatte. Wir haben gesehen, dass wir ohne Reisen und Shopping leben können und dachten, die Pandemie würde eine Lektion im verantwortungsbewussten Konsum werden. Doch dem war nicht so. Außerdem wurden die Reichen noch reicher, während für die Armen das Alltagsleben noch quälender wurde. Es gab damals den vorsichtigen Hoffnungsschimmer, dass sich die Politik in den Bereichen Arbeitsmarkt, Wohnen und Bildung ändern würde, dass wir verstehen, wie wichtig soziale Sicherheitsnetze sind. Doch vorerst bleiben wir beim Crowdfunding. Die Hoffnung kann nur von den Menschen neben uns kommen, nicht von denen über uns. 

Ich glaube, auf globaler Ebene haben wir den Moment verpasst, um eine Lektion zu lernen und etwas Bedeutendes in der Gesellschaft zu verändern. Auf individueller Ebene hat diese unerwartete Situation aber einige von uns nachdenklich gemacht. Sowohl ich, als jemand, der zeitweilig in einem der wohlhabendsten Länder Europas "blockiert" war, als auch meine Mutter, die seit 17 Jahren in Spanien lebt, wünschten uns im März und in den folgenden Monaten am allermeisten, Zuhause zu sein, bei unseren Lieben. Die (fehlenden) Autobahnen und Krankenhäuser und all die anderen Sachen, die für uns Rumänen zu Symbolen der Unterschiede zwischen Ost und West geworden waren, schienen plötzlich unwichtig. Wir wollten nur zusammen sein. Vielleicht ist das einzig Dauerhafte, was uns bleibt, dass "Zuhause" für uns eine neue Bedeutung hat. 

Die Schriftstellerin und Literaturübersetzerin Lavinia Braniște (Jahrgang 1983) lebt und arbeitet in ihrem Heimatland Rumänien. Ihr erster Roman mit dem rumänischen Originaltitel "Interior zero" wurde 2016 in Rumänien zum besten Roman des Jahres gewählt. 2018 erschien die deutsche Übersetzung unter dem Titel "Null Komma Irgendwas" im mikrotext-Verlag, Berlin. Ihr zweiter Roman "Sonia ridică mână“ ("Sonia hebt die Hand“) erscheint Anfang 2021 in deutscher Übersetzung.

Übersetzung aus dem Rumänischen: Dana Alexandra Scherle