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Politik

Zwei Seelen in Osteuropas Brust

Boris Kálnoky
12. Januar 2019

Es wird zurzeit viel demonstriert in den Ländern Ost- und Südosteuropas. Viele fordern politische Veränderungen. Es gibt aber auch viele, die nicht protestieren, und sie wollen vor allem Stabilität, meint Boris Kalnoky.

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Boris Kalnoky
Bild: privat

Es ist vielleicht in jedem Land so, aber ich glaube es gilt für uns in Ostmitteleuropa ganz besonders: Wir sind, als Gesellschaft, ein wenig schizophren. Es gibt immer zwei von uns. Der eine blickt sehnsüchtig nach Westen, der andere runzelt verärgert die Stirn über dessen Besserwisserei, Arroganz und - wie diese eine Seite in uns meint - schiere, unsägliche Dummheit. Es ist vielleicht die Seite, die in uns dominiert.

Man findet diese Version von uns vor allem auf dem Land und in den Herzen jener, die nicht mehr ganz jung sind, aber auch nicht ganz alt, weder sehr reich sind noch sehr arm, die schon Familien haben und einen Job. Verheiratete Frauen mit Kindern gehören ganz besonders dazu. Dies sind die Menschen, die Ministerpräsident Viktor Orbán in Ungarn seine Zweidrittel-Mehrheiten geben.

Die anderen leben vor allem in den großen Städten. Es sind die Jugendlichen, die Studenten, die Ungebundenen, junge Frauen denen das Recht auf Abtreibung wichtiger ist als Mutterpflichten, jene, die Fremdsprachen beherrschen und gerne reisen. Wenn sie die Augen nach vorne richten, wollen sie eine Zukunft voller Verheißung sehen. Man sieht sie derzeit oft auf den Straßen: Sie demonstrieren gern und viel - in Polen, in Ungarn, in Serbien, in Rumänien, in der Slowakei. Ihnen genügt es nicht, wenn alles beim Alten bleibt, und Stabilität - der größte Wert für unser anderes, konservatives Ich - ist Ihnen ein Gräuel.

Die "Urbanen" versus die "Volkstümlichen"

Diese beiden Pole unserer Gesellschaften gab es schon immer. Bei uns in Ungarn nannte man sie bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren die "Urbanen" - die städtischen Eliten - und die "Volkstümlichen". Beide schufen Kultur, Literatur, Musik, Kunst von bleibendem Wert. Aber im Westen hat man immer nur die urbane Seite von uns gesehen und überhaupt sehen wollen. Nur die Werke der Urbanen wurden in westliche Sprachen übersetzt. Nur urbane Intellektuelle waren nach der Wende gesuchte Gesprächspartner der westlichen Medien. Das gilt bis heute.

Belgrad Anti-Regierungsproteste
Proteste in Belgrad - Die "Urbanen" gegen die "Volkstümlichen"Bild: Reuters/M. Djurica

Aber bei uns waren die volkstümlichen Schriftsteller, die die ländliche Gesellschaft in ihren Werken liebevoll und minutiös beschrieben, immer viel populärer. Wir hören mehr auf die tiefere Stimme in uns, die der Volksmusik, der tragischen Liebe. In uns räsoniert das ewige Klagelied der Nation.

Auch jetzt blickt man im Westen milde interessiert auf jene von uns, die gegen die jeweiligen Machthaber demonstrieren. Vielleicht, so denkt man, sind die im Osten doch nicht ganz verkorkst. Der Rest - die Mehrheit - interessiert nicht.

Die Konzentration der Macht

Tatsache ist: Eine neue Generation wächst heran, für die "Antikommunismus" kein Bezugspunkt mehr ist. Ihr Bezugspunkt ist die aktuelle, "böse" Macht. Irgendwo haben sie Recht. Der Geist der Zukunftsfreude, der zur Wendezeit herrschte, ist längst verschwunden. Ob Sozialdemokraten wie in der Slowakei und Rumänien oder Konservative wie in Polen, Serbien und Ungarn, ob EU-kritisch oder wie in Serbien, die EU vergötternd - die Regierungen in unseren Ländern versuchen alle Machtpositionen der Gesellschaft zu besetzen und sich die Wirtschaft untertan zu machen.

Korruption gehört dabei zum Wesen der Sache. Es ist ein Streben nach optimaler Macht, weit entfernt vom Geist der Freiheit, der die Menschen zur Wendezeit erfüllte, die Generation der Eltern der jetzigen Demonstranten. Deren Kinder sagen heute: Wir müssen vollenden, was unsere Eltern begannen.

Struktureller Konservativismus im Osten

Die Alten sterben irgendwann, eine neue Jugend wächst heran, und so ist das Potenzial für Veränderung mit Händen zu greifen - aber leider wollen viele dieser jungen Leute in die westlichen EU-Staaten abwandern, die ihren Idealen besser entsprechen und wo man besser verdient. Das führt zu einem strukturellen Konservativismus im Osten Europas. Unser konservatives Ich läuft nicht weg, es bleibt daheim und schüttelt den Kopf über das Herumgehüpfe der anderen.

Umfragen zeigen, dass die Regierungen in Polen, Serbien und Ungarn vorerst nichts zu fürchten haben. In Rumänien und in der Slowakei ist es etwas anders, dort können die kommenden Wahlen Veränderung bringen. Vielleicht, weil dort nicht Konservative regieren, die von Familie, Gott und Vaterland reden, sondern korrupte Sozialdemokraten ohne eigene Botschaft, die sich immer schwer tun mit "Volkes Stimme" auf dem Land.

Die Stabilität ist in der Mitte

Zukunft ist unausweichlich, und die Jugend unserer Städte, die Elite von Morgen, will ein anderes Land als das, in dem sie heute lebt. Diese neue Generation mag die EU, aber die EU versteht sie offenbar nicht: Sie plant, künftig weniger Geld nach Ostmitteleuropa zu vergeben, und das wird die Tendenz zur Auswanderung bei den tüchtigeren Jugendlichen verstärken. Der Schlüssel zu Veränderung liegt in einem Wohlstandsversprechen für die junge Generation daheim, nicht im Versprechen einer besseren Zukunft in Deutschland oder England. Dass sollte man sich in Brüssel vor Augen halten.

Was uns selbst betrifft: Wir müssen nicht mit uns hadern. Unser urbanes Ich und unser ländliches Ego sind zwar zwei Seelen. Aber sie wohnen, ach, in unserer Brust. Wir gehören zusammen, die Strebenden und die Widerstrebenden. In der Mitte ist das Gleichgewicht, das wir alle wollen.

Boris Kálnoky, Jahrgang 1961, berichtet als Ungarn-Korrespondent mit Sitz in Budapest für die Tageszeitung "Die Welt" und andere deutschsprachige Medien. Er ist Autor des Buches "Ahnenland" (Droemer 2011), in dem er sich auf die Spuren seiner Vorfahren begibt - unter anderen der k.u.k.-Außenminister Gustav Kálnoky.