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Meine ganz persönliche Wiedervereinigung

2. Oktober 2020

Meinem "Ostmann" begegnete ich Silvester 1989/1990 zum ersten Mal. Als Ost-West Paar lernten wir unser neu vereintes Land auch von seinen weniger schönen Seiten kennen. Eine Geschichte von Vorurteilen und Fremdschämen.

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Bettina Stehkämper und ihr Mann
Hinaus in die Welt: 1992 reiste unsere Autorin mit ihrem Mann nach SüdostasienBild: Privat

Es war die erste "Westreise" meines späteren Mannes. Nach der Maueröffnung wollten seine Freunde und er die Silvesternacht 1989/1990 im westfälischen Münster verbringen. Irgendeiner der Freunde hatte Kontakt dort zu einer Wohngemeinschaft. Als wir uns bei deren Silvesterparty zum ersten Mal begegneten, war das jeweilige Land des anderen für uns Ausland. Wir hatten zwar die gleiche Muttersprache. Aber das Vaterland des anderen war uns fremd - und ziemlich egal. Da ging es uns wie vielen jungen Deutschen. Meine Familie hatte keine Verwandtschaft im Osten und wir stellten auch nie eine Kerze ins Fenster, im Gedenken an die "Brüder und Schwestern im Osten", wie es einige andere taten. Und auch meine spätere Ostfamilie hatte niemandem im Westen, den sie hätte vermissen können.

Symbolbild Wiedervereinigung deutsche Einheit Westdeutsche Ostdeutsche Mauerfall 1990
Der Fall der Mauer machte spannende Begegnungen möglichBild: picture-alliance/dpa

Politische Visionen

Heute würde man vielleicht sagen, mein Mann und ich hatten sehr viele "Matching-Punkte": Unsere Plattensammlungen waren fast identisch. Nur war meine deutlich einfacher und preiswerter zusammengekommen. Der Einrichtungsgeschmack, das kulturelle Interesse, die soziale Empathie, vieles stimmte bei uns überein.

Wir stellten auch sehr schnell fest, dass wir beide sehr ähnliche politische Vorstellungen hatten - von einer modernen Umweltpolitik angefangen bis zu einer fortschrittlichen Familienpolitik. Die Maueröffnung sahen wir beide als große demokratische Chance, das Land neu aufzustellen. Hoffnungsvoll verfolgten wir die Diskussionen des Zentralen Runden Tisches, der einen Entwurf für eine neue Verfassung erarbeitete. Er hatte die SED satt, ich die konservative Kohl- Regierung.

Anfang 1990 zogen Menschen zu tausenden in den Westen, vor allem junge Frauen. Ich wiederum gab im Frühjahr 1990 meinen Job und meine Wohnung im Westen auf und zog in die Zwei-Raum Wohnung des Ostmannes. Illegal, weil ich zu dem Zeitpunkt als Westdeutsche nicht einfach in der DDR wohnen durfte. 

Hochzeitseinladung Ost/West. Vor einer Karte des geteilten Deutschlands sind Kinderbilder des Brautpaares.
Die Hochzeitseinladung spielte mit der Teilung - und der Herkunft Ost und WestBild: Bettina Stehkämper/DW

Frage nach der "Ostseele"

Schnell wurden die Medien auf unsere seltene Paar-Konstellation aufmerksam: Westfrau mit Ostmann, im Osten lebend. Und in jedem Interview kam irgendwann unweigerlich die Frage: "Was macht die Ost- Seele aus, was die West-Seele"?

Jedes Mal kamen wir bei dieser Frage ins Schwitzen. Es fiel uns partout nichts ein. Verliebt hatten wir uns ja in die Gemeinsamkeiten. Nach etlichen Interviews hatten wir das Gefühl, wir müssten liefern. Also erzählten wir, dass wir nach wie vor das Toilettenpapier unserer Kindheit bevorzugen. Er das harte, feste aus dem Osten, ich das weiche aus dem Westen. Den meisten reichte das als Erklärung für die unterschiedliche Seelenlage im wiedervereintem Deutschland. Noch Jahre später waren selbst Freunde enttäuscht, wenn sie entdeckten, dass wir nur einen Toilettenpapierhalter hatten.

Um uns herum geriet alles aus den Fugen.

Nicht weit von uns besetzte die Ostberliner Neo-Nazi-Partei "Nationale Alternative" mehrere Häuser. Das "Braune Haus" Weitlingstraße machte mich fassungslos. Nazis im Osten!  Einen Steinwurf entfernt besetzten West-Berliner Studenten in der Mainzer Straße ebenfalls Häuser. Die beiden Deutschlands waren erst ein paar Wochen vereint, als im November 1990 die besetzten Häuser in der Mainzer Straße mit einem der spektakulärsten Polizeieinsätze der deutschen Nachkriegsgeschichte geräumt wurden. Wir wurden morgens davon wach, dass gepanzerte Mannschaftswagen der Polizei vorfuhren. Die alte Nachbarin stand im Nachthemd im Hausflur und schrie: "Es ist Krieg".

Berlin Mainzer Straße 1990 Polizeiaktion gegen Hausbesetzerszene
Szenen wie im Krieg: Räumung besetzter Häuser in Berlins Mainzer Straße 1990Bild: Peter Hammer/dpa/picture-alliance

Monate des Fremdschämens

In jener Zeit fuhren abends LKWs mit niederländischen Kennzeichen durch unser Viertel. Flinke Hände montierten aus den Altbauten die schönen Holzgeländer und die alten Türklinken ab. Später konnte man sie für viel Geld auf den Trödelmärkten in Amsterdam oder Belgien finden. Jeder schien das Land nur noch als Beute zu betrachten. Das machte den Ostmann fassungslos.

Im Sommer 1990 zeigte er mir seinen Lieblingssee. Wir fuhren mit meinem kleinen Auto mit dem Kennzeichen aus einer westdeutschen Provinzstadt früh hin. Als wir mittags Nachhause wollten, blockierte ein schicker BMW mit Münchener Kennzeichen mein Auto – Wegkommen unmöglich. Nach Stunden tauchte ein junges Paar auf, händchenhaltend, mit Badetaschen. Als wir uns bei ihnen über ihr unverschämtes Blockieren beschwerten, herrschte uns der Mann an, dass uns Ostlern die Seen lange genug gehört hätten. Sie würden sich die jetzt zurückholen. Mir war danach nur noch zum Heulen zumute.

Auch meine Schwiegereltern machten Erfahrungen, die sie nicht für möglich gehalten hätten: Leute, die plötzlich ungefragt auf ihrer Datsche erschienen und das Grundstück ausmaßen. Ungerechtfertigte Stasivorwürfe an der Hochschule, um wissenschaftliche Karrieren zu beenden und unfähiges Personal aus dem Westen zu versorgen. Und bei Bekannten erlebten sie, wie die größten Mitläufer zu DDR-Zeiten plötzlich zu glühenden Wiedervereinigungsbefürwortern wurden.

Runder Tisch
An "runden Tischen" wie hier in Leipzig nahmen Bürgerrechtler Einfuss auf den den VereinigungsprozeßBild: DHM

Fragen der Herkunft

Im damaligen Westberlin hatte ich nach meinem Umzug sehr schnell wieder Arbeit gefunden. Wie ein Lauffeuer muss sich dort verbreitet haben, dass ich eine Ostberliner Adresse hatte und morgens und abends den Grenzübergang passierte. Eines Tages klopfte mir ein Kollege gönnerhaft auf die Schultern:" Dafür, dass du aus dem Osten bist, machst du gute Beiträge". Als ich ihn fragte, wie er darauf komme, dass ich aus dem Osten wäre, meinte er absolut überzeugt von seinem Gespür: "Sieht man sofort: Jeanshose, Jeanshemd".

Auch der Ostmann kommt rasend schnell bei einem westdeutschen Unternehmen unter. Zuvor musste er allerdings Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland werden. Morgens verlässt er also unsere Wohnung in Ostberlin als DDR-Bürger, verbringt den Tag im Auffanglager Marienfelde -  heute sind dort Flüchtlinge untergebracht. Abends kommt er als Westdeutscher zurück. Er kämpfte mit dem Gefühl des Verrates. Nicht an der DDR, sondern an denen, die noch hoffen, selbstbewusst in die Einheit gehen zu können. Bei einer Unternehmensfeier ist man überrascht, dass nicht ich, sondern er aus dem Osten kommt. "Hätten wir nicht gedacht. Ihr Mann ist technisch so versiert und gewandt. Und kommt so gut mit dem Funktelefon klar". 

Die Ost- und die Westfamilie

Meine Ost- und meine Westfamilie haben so viel oder so wenig miteinander zu tun, wie andere auch, die aus unterschiedlichen Teilen Deutschlands sind. Die einen leben so weit auseinander, dass sie sich nicht sehen können; die anderen haben so wenig gemeinsam, dass sie sich nicht sehen wollen. Mit Ost und West hat das bei uns nichts zu tun. Nur wenn ich ganz scharf nachdenke, fällt mir eine Episode ein, die auf die unterschiedliche Herkunft hindeutet:

Als wir ankündigten, das erste Kind sei unterwegs, kaufte meine Schwiegermutter Unmengen von Babysachen, wo immer ein Angebot zu finden war. Wir hätten ein Kinderheim ausstatten können. Dahinter steckte die Erfahrung aus der Mangelwirtschaft der DDR: zuzugreifen, wenn etwas da ist. Irgendjemand wird es schon noch gebrauchen können. Meine Mutter dagegen sprach erst einmal wochenlang nicht mehr mit mir. Ihre Erfahrung war: Wenn ein Kind da ist, ist es mit der beruflichen Karriere der Frau vorbei. Schließlich hatte die Westmutter noch erlebt, dass der Mann ihr die Berufstätigkeit verbieten durfte. Das war im Osten anders.

Vielleicht sind unsere Kinder deshalb so hoffnungslos herkunftsblind. Selbst in der Pubertät fragten sie noch, welches Elternteil oder welche Oma jetzt aus dem Westen oder aus dem Osten ist. Noch heute brauche sie nicht zu fragen, woher ihre Freunde sind. Peru, Portugal oder Paderborn – meistens wissen sie es nicht.

Deutschland Installation des Künstlers Lars Ramberg auf dem Palast der Republik in Berlin
Wer Zweifel hatte am Wiedervereinigungsvertrag, galt schnell als DDR-NostalgikerBild: imago

Ende der politischen Euphorie

Den 3. Oktober 1990 verbrachten wir mit meinen Schwiegereltern und ihren Freunden. Es herrschte eine bedrückte Stimmung. Wir waren niedergeschlagen, weil wir uns in den Monaten zuvor zu oft geschämt haben für unsere jeweiligen Landsleute. Es ging nur noch um Konsum, Posten, "Kriegsgewinne". Die ehemaligen Bürgerrechtler spielten kaum noch eine Rolle. Wer Zweifel an der Weisheit des Wiedervereinigungsprozesses hatte, galt als unverbesserlicher DDR-Nostalgiker.

Der DDR trauerte an diesem Tag keiner von uns nach. Nur den verpassten Chancen.