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Der ESC ist politisch

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Andreas Brenner
15. Mai 2022

Der Sieg der Ukraine beim Eurovision Song Contest in Turin zeigte wieder, dass der Musikwettbewerb nicht unpolitisch ist. Und das ist gut so, meint Andreas Brenner.

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Italien I Eurovision Song Contest I Kalush Orchestra aus der Ukraine
Bild: Sander Koning/ANP/IMAGO

Die Ukraine hat zum dritten Mal den Eurovision Song Contest gewonnen. Das Land erlebt zurzeit die schlimmste Invasion seit dem Zweiten Weltkrieg und hat trotzdem am Musikwettbewerb teilgenommen. Das ist genauso unglaublich, wie eine der größten Partys in Europa zu veranstalten, während ein brutaler Krieg in der Mitte des Kontinents tobt. 

Mit dem Sieg für die Ukraine hat sich der Eurovision Song Contest aus diesem Dilemma befreit und eine klare politische Position bezogen. Kalush Orchestra hat es dem ESC leicht gemacht. Die Ukrainer haben in Turin einen großartigen Auftritt hingelegt, den Zuschauer mit der höchsten Punktzahl würdigten. Wir werden nie erfahren, ob das Lied "Stefania" unter anderen Umständen den ESC gewonnen hätte. Die nationalen Jurys setzten die Ukraine jedenfalls "nur" auf den vierten Platz.

Doch die Zuschauer konnten keine andere Wahl treffen. Erstens braucht die Ukraine jede Unterstützung, wie auch der Frontman der Band Oleh Psiuk betonte. Zweites steht der Eurovision Song Contest für das friedliche Zusammenleben, Selbstbestimmung und Lebensfreunde - all das, was die Armee des russischen Präsidenten Wladimir Putin gerade zu zerstören versucht. 

ESC war nie unpolitisch 

Die Stimmen für die Ukraine waren eine klare Botschaft an Russland: Europa und auch ESC-Teilnehmer Australien werden den Krieg nie akzeptieren. Das war eine politische und eine richtige Entscheidung. Unpolitisch war der Wettbewerb ohnehin nie. Allein sein Entstehen im Jahr 1956 brachte Länder auf eine Bühne, die noch elf Jahre zuvor, im Zweiten Weltkrieg, gegeneinander gekämpft hatten. Das war politisch. Der erste deutsche Sieg beim Eurovision Song Contest 1982 mit "Ein bisschen Frieden" von Nicole traf den Nerv der damaligen Zeit und der Friedensbewegung. 

Das Fallen des Eisernen Vorgangs öffnete Osteuropa den Weg zum ESC. Mehrfach haben Teilnehmerländer beim Eurovision Song Contest politischen Streit ausgetragen. Auch Russland und die Ukraine. Aber der Sieg der Ukrainerin Jamala 2016 in Stockholm mit dem Lied "1944" zeigte, auf wessen Seite Europa nach der Krim-Annexion steht. 

Russland hat keinen Platz beim ESC 

1944 war das Jahr, in dem Krimtataren auf Befehl von Stalin von der Halbinsel deportiert wurden. Anders als "1944" versteckt "Stefania" keine politischen Botschaften, die nach den Regeln des ESC eigentlich verboten sind. "Stefania" ist eine Liebeserklärung an die Mutter, die auf Ukrainisch in einem Mix aus Rap und Folk verpackt ist. Noch ein Beispiel vielseitiger ukrainischer Kultur und Identität, deren Existenz Wladimir Putin ständig leugnet. 

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DW-Redakteur Andreas Brenner

Mit seiner Unterstützung für die Ukraine zeigte der Eurovision Song Contest, dass dieses Land ein Teil der europäischen Familie ist. Und die Aufrufe, Ukrainern zu helfen, wertete der Ausrichter des Wettbewerbs, die Europäische Rundfunkunion (EBU), als humanitäre Geste - wohl wissend, welche Gefühle der Krieg in der Ukraine bei den Teilnehmern und den Menschen in Europa weckt. 

In dieser Familie gibt es keinen Platz für Russland. Auf Drängen mehrerer EBU-Mitglieder wurde es kurz nach dem Überfall auf die Ukraine vom ESC ausgeschlossen. Um zum Wettbewerb zurückzukehren, muss Russland mental "entputinisiert" werden. Das wird Jahre dauern, denn die Abneigung gegenüber europäischen Werten, die universelle Werte sind, hat tiefe Wurzeln in der Mehrheit der russischen Gesellschaft.

Eine klare politische Positionierung des Eurovision Song Contest bedeutet aber nicht, dass der Musikwettbewerb von Politikern instrumentalisiert werden darf. Die ESC-Fangemeinde ist smart genug, um sich von Politkern nicht bevormunden zu lassen. Sie trifft selbst ihre auch politischen Entscheidungen. Der freie Geist des Eurovision Song Contest ist auch ein Schlüssel seines Erfolgs und der Beliebtheit nicht nur bei den Fans. 

Respekt für die Ukraine - auch beim nächsten ESC

Und wenn wir über die norwegischen "Wölfe", das übertriebene Pathos einiger Balladen oder eine serbische Künstlerin, die sich auf der ESC-Bühne ihre Hände wusch, geschmunzelt haben, dann ist das OK. Spaß gehört zum Samstagabend. Dieser kann schließlich auch schnell vorbei sein, wie der russische Überfall gezeigt hat. Diese Invasion hat vielen Ukrainern den Spaß am Eurovision Song Contest geraubt. Denn es ist kaum vorstellbar, dass sie genauso unbeschwert den Abend genossen haben wie Spanier, Polen oder Italiener. 

Der Sieg von Kalush Orchestra hat auch eine andere bittere Note. Das Gewinnerland darf den nächsten ESC ausrichten. Bei der jetzigen Zerstörung der Ukraine scheint dies unmöglich, selbst wenn der Krieg bald zu Ende sein sollte und Russland aufhört, ukrainische Städte mit Raketen und Bomben zu attackieren. 

Ein anderes Land wird wahrscheinlich den nächsten Eurovision Song Contest ausrichten, vielleicht das zweitplatzierte Großbritannien. Die EBU wird eine Lösung finden. Sie muss aber so ausfallen, dass der Leistung der Ukraine gebührend Respekt gezollt wird - so wie es die Zuschauer des ESC 2022 gemacht haben.