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Politik

Der Holocaust und Polens guter Ruf

Kommentarbild Katarzyna Domagala-Pereira
Katarzyna Domagala-Pereira
10. Februar 2021

Wenn es um die Vernichtung der Juden geht, wollen Polen nicht in einer Reihe mit Nazis genannt werden. Dennoch wäre es falsch, die Fälle nicht zu erforschen, wo es zu Mittäterschaft kam, meint Katarzyna Domagala-Pereira.

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Gedenken in Auschwitz zum 75. Jahrestag der Befreiung
Zwei Überlebende des KZ Auschwitz mit einer polnischen Fahne am 75. Jahrestag der BefreiungBild: picture-alliance/ANP/R. de Waal

Vor kurzem habe ich an einer Reportage gearbeitet, in der es um die Ermordung einer polnischen Familie geht. Die gesamte Familie Ulma, darunter sechs Kinder, verlor ihr Leben, weil sie im Zweiten Weltkrieg Juden versteckt hat. Der mutmaßliche Verräter - ein polnischer Hilfspolizist - wurde später von polnischen Untergrundkämpfern getötet. Auf die wissenschaftlichen Arbeiten, die den Polizisten als Mitschuldigen nannten, reagierte dessen Stieftochter entsetzt. Ihr Stiefvater sei ein guter Mensch gewesen, die Sache mit den Ulmas habe er "zufällig ausgeplaudert", schrieb sie an einen Historiker. Vor Gericht klagte sie aber nicht.

Anders reagierte die 81-jährige Nichte eines damaligen Dorfvorstehers in Ostpolen. Sie klagte gegen zwei Holocaust-Forscher, die in einem Monumentalwerk anhand von Zeugenaussagen über die Mitschuld ihres Onkels am Tod von mehr als 20 Juden berichten, die sich in einem Wald nahe des Dorfes versteckt hatten. Die Klägerin machte geltend, das Andenken ihres Onkels werde beschädigt.

Ein Nation von Helden?

Im Prinzip geht es aber gar nicht um den guten Ruf eines einzelnen Dorfvorstehers, sondern um den guten Ruf Polens. "Reduta, Festung des guten Namens - Liga gegen Verleumdung", so der Name der rechtsnationalen polnischen Stiftung, die hinter der Klage steht. Die Stiftung, rechte Medien, aber vor allem Polens national-konservative Regierung kämpfen seit Jahren überall dort, wo es um die Mitverantwortung von Polen für Naziverbrechen und Holocaust geht. Denn diese Fälle passen nicht in die Geschichtspolitik der PiS-Regierung. Die Polen sollen ausschließlich als Nation von Helden gesehen werden.

Redakteurin DW-Polnisch | Katarzyna Domagala-Pereira
DW-Redakteurin Katarzyna Domagala-PereiraBild: Privat

Dass die Polen nicht in einer Reihe mit den Naziverbrechern genannt werden wollen, kann niemanden überraschen. Ohne den deutschen Überfall auf Polen, ohne den täglichen Terror der Besatzer hätte es weder Verrat noch Judenpogrome durch Polen geben können. Aber diese Taten nicht aufzuzeigen, zu verharmlosen, gar zu vergessen, wäre falsch. Gut, dass die Warschauer Richter "die Identität und den nationalen Stolz" nicht als Grundrechte anerkannt haben. Das hätte nämlich bedeutet, dass jeder polnische Bürger jeden verklagen könnte, der etwas Kritisches über die polnische Nation oder den polnischen Staat sagt.

Die meisten "Gerechten unter den Völkern"

Im besetzten Polen drohte denjenigen, die Juden vor Deportation und Vernichtung retteten, der Tod. Viele haben es trotzdem riskiert. In der Gedenkstätte Yad Vashem sind die Polen die mit Abstand größte nationale Gruppe im Kreis der "Gerechten unter den Völkern". Und die 7112 mit diesem Titel geehrten Polen sind sicher nicht alle, die sich damals um die Menschlichkeit verdient gemacht haben. Aber neben der Erforschung von heldenhaften Taten wie der Familie Ulma muss auch eine lückenlose Dokumentation der Judenverfolgung möglich sein und wer daran beteiligt war

Das Urteil vom Dienstag ist noch nicht rechtskräftig. Die beklagten Wissenschaftler werden weiter ihre Schlussfolgerungen aus den historischen Quellen verteidigen. Es gibt also noch Hoffnung für die Freiheit der Forschung.

Kommentarbild Katarzyna Domagala-Pereira
Katarzyna Domagala-Pereira Journalistin und Publizistin, stellvertretende Leiterin von DW-Polnisch.