Außergewöhnliche Zeiten wie eine Pandemie erfordern außergewöhnliche Reden, mag sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gedacht haben. Ihr erste Rede zur Lage der Union war außergewöhnlich lang, in manchen Punkten außergewöhnlich konkret. Und sie sollte in diesen Krisenzeiten außergewöhnlich viel Zuversicht verbreiten. Die Krise als Chance war das Leitmotiv der Kommissionspräsidentin, die seit Dezember im Amt ist.
Die Antworten einer beim Ausbruch der Pandemie zunächst fragilen Europäischen Union auf die gesundheitlichen und jetzt vor allem wirtschaftlichen Herausforderungen seien ermutigend, pries Ursula von der Leyen die wiedergewonnene Widerstandfähigkeit der Union. In der Tat ist die schnelle Einigung der EU-Mitgliedsstaaten auf ein mit gemeinsamen Schulden finanziertes Wiederaufbau-Programm eine erstaunliche Leistung, ja eine Revolution in EU-Maßstäben. Wenn genug Druck herrscht, kann die EU liefern.
Aus der Krise gestärkt hervorgehen
Nun gelte es den Moment, diesen Schwung zu nutzen, forderte von der Leyen. Der Wandel, der jetzt in der Wirtschaft, bei der Digitalisierung, beim Klimaschutz und selbst bei der hoch umstrittenen Migration nötig sei, müsse gestaltet werden, und dürfe nicht durch ein Desaster diktiert werden.
Das unerwartet viele Geld im Aufbaufonds, über dessen Verwendung die EU-Kommission in den nächsten Jahren mitbestimmen wird, gibt der Präsidentin von der Leyen unerwartet viel Macht. Die will sie nutzen. Das machte sie in ihrer Rede ganz klar. Sie machte einige konkrete Vorgaben. Mehr als ein Drittel der 750 Milliarden Euro soll in Investitionen zum Klimaschutz fließen. 20 Prozent sind für die Entwicklung digitaler Souveränität in Europa vorgesehen, sprich eine Speicherung und Verarbeitung von Daten unabhängig von amerikanischen oder chinesischen Konzernen. Gleichzeitig will von der Leyen noch einen Mindestlohn in ganz Europa einführen, eine Gesundheits-Union mit mehr Kompetenzen für Brüssel und eine sichere digitale Identität für jede EU-Bürgerin und jeden EU-Bürger schaffen.
Um den Zusammenhalt in der EU zu stärken, verweist die EU-Kommissionspräsidentin auf die Bedrohungen von außen. Sie kritisiert Russland, China, die Türkei und pocht auf Eigenständigkeit auch gegen gegenüber dem Weißen Haus, das sie ausdrücklich vom Rest der USA abkoppelt. Der Unterschied zwischen dem derzeitigen US-Präsidenten und ihr? Für sie gilt nicht "Europe first", sondern weltweite Kooperation als Richtschnur. Von der Leyen läßt wenig Zweifel, wen sie sich ab nächsten Januar im Weißen Haus wünscht, um einen Neustart der transatlantischen Beziehungen zu wagen. Der Schluss, den die Kommissionspräsidentin aus dem Verhalten der Präsidenten Trump, Bolsonaro und Putin in der Pandemie zieht, ist richtig: "Selbstbezogene Propaganda" hilft nicht weiter. Deshalb müsse ein geopolitisch aktives Europa führen, weil andere sich von der Welt abwenden.
Die Taten zählen
Um das zu tun, braucht die EU aber mehr interne Einigkeit. Aus diesem Grund plädiert von der Leyen für Mehrheitsentscheidungen in außenpolitischen Fragen und eine strikte Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in den EU-Staaten, auch in Polen. Sie fordert, endlich einen Kompromiss bei der Verteilung von Asylbewerbern in der EU zu finden. Die Briten hat von der Leyen fast schon abgeschrieben. Eine letzte Mahnung an Boris Johnson, sich gefälligst an bestehende Verträge zu halten. Sie setzt eher auf Fortschritte auf dem Westlichen Balkan und bei der angestrebten Partnerschaft mit Afrika.
Die Welt von morgen zu gestalten, ist das ambitionierte Ziel der Krisenmanagerin von der Leyen, die diese Rolle nicht gewählt hat, sondern in die sie von der Pandemie gezwungen wurde. Ihre Rede war der Herausforderung angemessen. Sie benutzt sogar einen Satz, den sie sich bei ihrem Vorbild Angela Merkel abgeschaut hat: "Wir schaffen das", hatte die Kanzlerin in der Krise 2015 gesagt. "Wir können das machen", sagte Ursula von der Leyen heute. Sie legt die Latte außergewöhnlich hoch. Jetzt muss sie Anlauf nehmen und springen.