Sie ist ein, für viele das Symbol der friedlichen Revolution in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) 1989 schlechthin: die millionenfache Öffnung von Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Der Name - MfS - war natürlich eine verschleiernde und zynische Camouflage, denn hinter der vom Volksmund kurz und prägnant Stasi genannten Behörde verbarg sich ein gigantischer Überwachungs- und Unterdrückungsapparat. Diese Spielart einer diktaturtypischen Geheimpolizei diente dem Machterhalt der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED).
Nach dem Untergang der DDR wurde die Welt Zeugin eines einzigartigen Experiments: Das Erbe der Stasi landete nicht im Giftschrank, sondern wurde für alle zugänglich. Damit sollten vor allem die Millionen Opfer jahrzehntelanger Willkür die Chance bekommen, sich von der Last ihrer Vergangenheit zu befreien. Endlich gab es Antworten auf quälende Fragen: Wer hat mich bespitzelt? Waren es Arbeitskollegen, Nachbarn, Freunde oder sogar Familienmitglieder? Im besten Fall konnten die Betroffenen Frieden mit sich und vielleicht auch mit ihren lange unsichtbaren Gegnern und Feinden schließen.
Die Stasi-Trutzburg wurde ein Haus der Offenen Tür
Um diese hochgesteckten, oft genug auch unrealistischen Ziele erreichen zu können, stürmten Bürgerrechtler nach dem Sturz des SED-Regimes die Berliner Stasi-Zentrale und ihre über das gesamte Land verteilten Dependancen. Denn ihre einstigen Unterdrücker waren längst dabei, belastendes Material zu vernichten. Das Meiste konnte zum Glück gerettet werden. Diesen beispiellosen Akt zivilen Ungehorsams und bewundernswerten Mutes umweht auch 2020, also 30 Jahre danach, etwas Märchenhaftes. Die Stasi-Trutzburg verwandelte sich in ein Haus der Offenen Tür.
Die wichtigsten Möbelstücke: Schränke und Regale, vollgestopft mit Akten. In die seit 1990 weit mehr als drei Millionen Menschen Einblick genommen haben - was für eine Erfolgsgeschichte! Doch nun verliert dieses Haus auf Beschluss des Deutschen Bundestages sein sichtbarstes und wichtigstes Detail: das Namensschild und damit die Eigenständigkeit. Die Stasi-Unterlagen-Behörde wird aufgelöst und ins Bundesarchiv integriert. Einziger, aber auch hilfreicher Trost: Die Akten bleiben offen für alle - Betroffene, Wissenschaftler, Medien.
Nun könnte man fragen: Wo liegt dann das Problem? Niemand hat die Absicht, einen Schlussstrich unter das unselige Stasi-Kapitel zu ziehen. Ja, das stimmt. Aber die Aufarbeitung der SED-Diktatur verliert mit diesem politisch gewollten Verwaltungsakt ihr wichtigstes Symbol: die Abschaffung einer staatlichen Behörde, deren Strahlkraft weit über Deutschland hinausragte. Die Vorbild war für alle anderen europäischen Länder, die sich 1989 und danach vom Joch der Unterdrückung befreiten.
Dunkle Dämonen wurden ans Tageslicht gezerrt
Die Stasi-Unterlagen-Behörde wurde zu einer Art Pilgerstätte für Politiker und Forscher aus allen Ecken der Welt, in denen einst die Finsternis einer Diktatur herrschte. Besucher aus lateinamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Ländern wollten vom deutschen Umgang mit dieser Vergangenheit lernen. Ihre Lehrer waren und sind noch bis zum Sommer 2021 ehemalige DDR-Bürgerrechtler. Vom Parlament gewählte Bundesbeauftragte, die ihrem Amt weit mehr als demokratische Legitimation verliehen: Wertschätzung, Anerkennung, Genugtuung - und Macht über die Dämonen der Vergangenheit.
All das wird künftig fehlen, weil die Stasi-Akten zwar zugänglich bleiben, aber durch das Ende der Behörde ihren auch international unübersehbaren Stellenwert verlieren. Dabei wäre in einer Welt, in der nach wie vor Milliarden Menschen unter Diktaturen leiden, eine eigenständige Stasi-Unterlagen-Behörde so wichtig wie eh und je. Ein Gedanke, der mir 2016 noch nicht in den Sinn gekommen war, nachdem eine Experten-Kommission die Integration der Stasi-Akten ins Bundesarchiv empfohlen hatte. Ich habe meine Meinung also geändert.
Der SED-Opferbeauftragte - ein Trostpflaster
Der Bedeutungsverlust soll nun halbwegs dadurch kompensiert werden, dass statt eines Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen ein Bundesbeauftragter für die Opfer der SED-Diktatur im Parlament gewählt werden soll. Gut gemeint, aber kaum mehr als ein Trostpflaster. Und vor allem: viel zu spät. Denn viele SED-Opfer sind über 30 Jahre nach der friedlichen Revolution schon längst gestorben.