Düstere Aussichten für das Horn von Afrika
Beobachter der Lage am Horn von Afrika waren wenig verwundert, als die renommierte, 1933 von Albert Einstein gegründete Lobbygruppe International Rescue Committee am Jahresende Alarm schlug: 2023 werden nicht die Ukraine, Syrien oder der Jemen die weltweit "mit größter Sorge" zu beobachtenden Krisenländer sein - sondern Somalia und Äthiopien. Wie konnte es soweit kommen?
"Failed State" Somalia
Eine seit zwei Jahren andauernde Dürre, gepaart mit dem nicht enden wollenden Abnutzungskrieg zwischen einer demoralisierten Armee und den islamistischen Steinzeit-Kriegern des Al-Kaida-Ablegers Al Shabaab: Es verwundert nicht, dass Somalia, der sprichwörtliche "failed state" am Horn von Afrika, alle Negativrekorde bricht. Während Mensch und Vieh verhungern, verstricken sich Präsident, Premier und die nach Clan-Proporz gewählten Abgeordneten in einem Teufelskreis aus Korruption, Nepotismus und Staatsversagen.
Erschwerend hinzu kommt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine: Vor dem Überfall bezog Somalia 90 Prozent seines Weizens aus Russland und der Ukraine. Die wenigen Hilfsschiffe, die nun mit Getreide ankommen, sind nicht mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein. Eine halbe Million Kindern in Somalia droht in Folge der Dürre, Kämpfe und der Versorgungsengpässe der Hungertod - mehr als in irgendeinem anderen Land in diesem Jahrhundert.
Die Dauerkrise in dem einst prosperierenden Land mit seinen reichen Fischgründen droht selbst das benachbarte, vergleichsweise gut regierte Somaliland in den Abgrund zu ziehen, das dem Westen bislang als eine Art Blaupause für ein funktionierendes Somalia diente.
Wer nun reflexartig die Schuld "im Westen" sucht, dem sei gesagt, dass die US-Regierung, trotz einer tiefen "Somalia Müdigkeit" 90 Prozent aller Hilfslieferungen in den Chaos-Staat alimentiert. Nein, letztlich sind es nur die betroffenen Länder (lies: Regierungen) selbst, die das Blatt wenden können. Leider sind die Aussichten düster.
Kostspieliger Krieg in Äthiopien
Das bettelarme Äthiopien leistete sich bis zum November 2022 einen zweijährigen Bürgerkrieg mit der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) mit geschätzten 600.000 Opfern - es war der verlustreichste Krieg der jüngsten Vergangenheit. Und ein teurer zudem: Eine türkische Bayraktar TB2-Drone, die die äthiopische Regierung in Ankara dafür orderte, kostet je nach Ausstattung zwischen zwei und fünf Millionen Euro - pro Stück.
Nach eigenen Angaben benötigt das Land nun 3,6 Milliarden US-Dollar (3,4 Milliarden Euro) für den Wiederaufbau - die tatsächlichen Kosten dürften erheblich darüber liegen. Im selben Zeitraum stieg die Inflation für Lebensmittel auf sagenhafte 40 Prozent.
Die Unbekannte: Eritrea
Während in Somalia und Äthiopien die Dynamiken, die in den kommenden Jahren über Wohl oder Wehe entscheiden, relativ gut ausgeleuchtet sind, bleibt das kleine Eritrea, abwechselnd als "hermetischer Polizeistaat" oder "Nordkorea Afrikas" tituliert, eine Unbekannte. Weder Hunger- noch COVID-Statistiken sind verfügbar, das geostrategisch wichtige Land am Roten Meer ist eine Black Box. Nur eines scheint gewiss: Langzeit-Diktator Isaias Afwerki wird auch 2023 weiter zündeln – seine Staatsraison ist das größtmögliche Chaos in der Region.
Im verlustreichen Äthiopienkrieg spielt der Nachbar Eritrea, dessen Führung die TPLF als Erzfeind betrachtet, eine nicht zu unterschätzende Rolle: Da das Land nicht Teil des Friedensabkommens von Pretoria ist, könnte es im kommenden Jahr zu einem erneuten Ausbruch von Feindseligkeiten in der umkämpften Tigray-Region unter Beteiligung Eritreas kommen - damit würde die Zahl der Todesopfer weiter steigen.
Und noch jemand mischt mit am Horn: Dass die Rebellengruppe FRUD auch im winzigen, aber strategisch bedeutsamen Dschibuti mit seinen französischen, amerikanischen und chinesischen Militärbasen wieder aktiv ist, macht die Gemengelage nicht eben einfacher.
Unterstützung, auch aus Eigennutz
"Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme" ist zum Mantra vieler Politiker zwischen Kap und Kairo geworden - und wer würde diesen Politansatz nicht unterschreiben wollen in Europa.
Denn die Alternative ist verheerend: Laut Weltbank wird Afrika bald unfassbare 100 Milliarden Euro für Lebensmittelimporte ausgeben - pro Jahr! Die exorbitanten Kosten für den Wiederaufbau ganzer Landesteile und die Versorgung von Millionen Binnenflüchtlingen sind da noch gar nicht eingerechnet.
Deutsche und Europäer sollten, bei allem verständlichen Engagement für die Ukraine, das Horn nicht abschreiben - aus geopolitischen Gründen, aber durchaus auch aus Eigennutz: Eine Flüchtlingswelle über das Mittelmeer, ausgelöst durch Krieg und Hunger, könnte hierzulande zu neuerlichen gesellschaftlichen Verwerfungen führen.
Äthiopien und Somalia können 2023 die Apologeten des Afropessimismus eines Besseres belehren - wenn die Regierenden es nur wollen.