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PolitikJapan

Japans Premier Kishida fehlt es an politischem Kapital

Martin Fritz, Journalist in Tokio
Martin Fritz
17. Juli 2022

Nach der Ermordung von Shinzo Abe muss Premierminister Fumio Kishida versuchen, Japan neue politische und wirtschaftliche Impulse zu geben. Trotz parlamentarischer Mehrheit wird es schwierig, meint Martin Fritz.

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Trauernde verneigen sich vor einem Auto, das den Sarg trägt des ermordeten japanischen ex-Premier Shinzo Abe
Shinzo Abes Tod hinterlässt ein politisches Vakuum, das Premier Kishida füllen mussBild: Masanori Genko/Yomiuri Shimbun/AP/picture alliance

Eigentlich besitzt Fumio Kishida gerade außerordentlich gute Chancen, der japanischen Politik seinen eigenen Stempel aufzudrücken. Erstens kontrolliert seine Koalition aus Liberaldemokraten (LDP) und der kleinen Komeito-Partei mehr als zwei Drittel der Sitze im Parlament. Zweitens kann Kishida drei "goldene Jahre" lang durchregieren, da der nächste Urnengang erst im Spätherbst 2025 ansteht. Drittens erhält der 64-Jährige, so grausam es klingen mag, als Folge des Attentates erstmals freie Hand - bisher hatte Shinzo Abe als heimliches Machtzentrum der LDP die Regierungspolitik ständig beeinflusst.

Angesichts dieser Konstellation könnte Kishida endlich einige lange vernachlässigte Strukturprobleme anpacken - von der rapiden Alterung der Bevölkerung mit ihren explodierenden Gesundheitskosten bis zum Facharbeiter- und generellen Arbeitskräftemangel. Auch die Dekarbonisierung der Wirtschaft drängt, weil Japan stärker als Deutschland von fossilen Energieträgern abhängt.

Kishida muss liefern

Doch der Regierungschef besitzt weniger politisches Kapital, als es aussieht. Denn der selbsternannte Liberale Kishida, der in Hiroshima zuhause ist, führt eine konservative Partei und Regierung. Er ist sogar der erste Liberale an der Parteispitze seit drei Jahrzehnten. In dieser Zeit ist die LDP deutlich nach rechts gerückt. Kishida muss also die Wünsche der Rechten berücksichtigen, um nicht den Rückhalt der eigenen Partei zu verlieren. 

Martin Fritz, Journalist in Tokio
Martin Fritz ist Asien-Korrespondent mit Sitz in TokioBild: Privat

Noch fehlt ein Herausforderer, hinter dem sich die Konservativen sammeln könnten. Die mächtige LDP-Faktion, die Abe führte, konnte sich nicht auf einen Nachfolger einigen und setzte eine siebenköpfige Führung ein. Doch dieses Arrangement dürfte kaum von Dauer sein. Entweder spaltet sich die Faktion, was angesichts von 94 Mitgliedern keineswegs unwahrscheinlich ist, oder jemand setzt sich schließlich durch und wirft Kishida bei der Neuwahl des Parteivorsitzenden im Herbst 2023 den Fehdehandschuh hin.

Wegen seiner Außenseiterposition gibt Kishida bereits seit seinem Amtsantritt im Oktober den Konservativen. Nach dem Tod von Abe muss er diesen Kurs erst recht fortsetzen, um sich an der Spitze zu halten. Daher beteuerte er nach dem Attentat, auf dem Erbe des Toten "aufzubauen." Er wolle die Verfassungsreform angehen und den politischen Traum des Ermordeten verwirklichen. Zugleich versprach er eine "drastische" Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit - Abe hatte eine schnelle Verdoppelung des Verteidigungshaushaltes auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung gefordert. Ebenso ordnete Kishida ein Staatsbegräbnis für Abe im Herbst an. Auf diese Weise verschafft er den Konservativen symbolisches Prestige, ohne dafür einen politischen Preis zu bezahlen.

Goldene Jahre für Japan unter Kishida?

Doch Kishida würde seine liberalen Überzeugungen verraten, wenn er die rechte Agenda tatsächlich energisch verfolgt. Wir werden daher rechte Lippenbekenntnisse von ihm sehen, etwa zur Verfassungsreform, weil er weiß, dass sich deren Umsetzung über Jahre hinziehen wird. Dadurch verschafft er sich Spielraum für liberale Reformen, die er mit dem Schlagwort "neuer Kapitalismus" umrissen hat - die gestiegene soziale Ungleichheit soll zurückgehen, etwa durch Lohnerhöhungen. 

Für diese Analyse spricht, dass Kishida das Wort "Abenomics" seit dem Attentat kein einziges Mal in den Mund genommen hat, obwohl diese ultralockere Geld- und Fiskalpolitik nach dem Ermordeten benannt ist. Eine solche sehr japanische Trennung von tatemae (öffentlich nur sagen, was andere erwarten) und honne (die wahren Gefühle, die man versteckt) birgt einige Risiken. Aber wegen der innerparteilichen Umstände kann Kishida nur auf diese Weise die drei goldenen Jahre in seinem Sinne nutzen.