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Was Putin wirklich will

1. Januar 2022

Russlands Präsident sucht keinen Kompromiss - er will, dass der Westen kapituliert. In der Ukraine-Frage strebt Putin einen Showdown mit der NATO an. Das muss der Allianz klar sein, meint DW-Redakteur Konstantin Eggert.

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USA Russland Biden und Putin
Bild: ERIC BARADAT/AFP

Wladimir Putin erzählt in seinem Buch "Aus erster Hand" eine Geschichte aus seiner Jugend, als er mal in seinem Wohnblock in Leningrad eine fette Ratte jagte. Er und ein paar Freunde hatten das Tier um ein paar Ecken gehetzt, als die Ratte urplötzlich aggressiv wurde und ihrerseits den jungen Putin angriff. Jetzt waren es Putin und seine Kumpels, die fliehen mussten. Wieso diese Geschichte wieder mal wichtig ist? Weil für Putin Geschichten, in denen es um Stärke und Verzweiflung geht, eben mehr sind als nur Geschichten. Gerade in diesen Tagen kann die Anekdote mit der Ratte wieder mal als Metapher gelesen werden.

Kurz vor und kurz nach Putins Telefonat mit US-Präsident Joe Biden vom vergangenen Donnerstag machten hintereinander sein Außenminister Lawrow, sein außenpolitischer Berater Juri Uschakow sowie der russische Botschafter in den USA Anatoli Antonow eins klar: Russland wird sich nicht lange mit Gesprächen im Kalter-Krieg-Stil aufhalten. Es will rechtlich verbindliche "Sicherheits-Garantien" vom Westen: die Zusage, dass keine weiteren ehemaligen Sowjetstaaten in die NATO aufgenommen werden (Ukraine, Georgien) sowie das Versprechen, die militärische Aktivität in Mittelosteuropa und den baltischen Staaten herunterzufahren. Russland will, dass keine Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa stationiert werden. Putin macht klar: Die Truppen an der ukrainischen Grenze wird er erst abziehen, wenn die NATO ihr 2008 gegebenes Versprechen an die Ukraine und Georgien über eine zukünftige Mitgliedschaft kassiert.

Moskau macht Druck - doch wieso?

Nach über 20 Jahren auf der internationalen Ebene weiß Putin natürlich nur all zu gut: Das alles wird niemals passieren. Würde die NATO wirklich ihre auf dem Gipfel 2008 in Bukarest gegebenen Versprechen aufgeben - so kontrovers diese auch unter den europäischen NATO-Staaten diskutiert worden waren -, dann wäre das, als würde die Allianz den Russen quasi das Vetorecht über die eigenen Entscheidungen einräumen. Es wäre das Ende der NATO wie wir sie kennen.

von Eggert Konstantin Kommentarbild App
DW-Redakteur Konstantin Eggert

Biden hat die Bukarest-Versprechen zumindest schon mal ein wenig eingeschränkt. Die Ukraine müsse erstmal ihr Korruptionsproblem in den Griff kriegen, bevor weiter über eine NATO-Mitgliedschaft nachgedacht werden könne. Auch hat er schon klar gemacht, dass keine großen Waffen auf ukrainischem Gebiet gelagert werden würden. Theoretisch ist es sogar denkbar, dass Biden noch die US-Militärkooperation mit Kiew etwas einschränken wird, das allerdings würde den US-Kongress wohl verärgern.

Im Grunde hat Washington eigentlich schon so ziemlich alle möglichen Zugeständnisse an Russland gemacht, bevor es überhaupt zu bilateralen Gesprächen in Genf kommt - diese sind für den 10. Januar anberaumt. Trotzdem macht der Kreml Druck und fordert weitere Zugeständnisse. Obwohl den Russen klar sein müsste, dass diese total illusorisch sind. Die Frage ist: Wieso macht Moskau diesen Druck?

Putin nutzt das Momentum

Putin hält den Westen und speziell die Europäische Union für völlig von der Pandemie entkräftet. Eine starke Führung sieht er nicht. Biden hat einen Fehler begangen, als er Putin im Frühjahr zu direkten Gesprächen eingeladen hatte - zu einer Zeit, als sich schon abzeichnete, dass Russland an der ukrainischen Grenze Truppenbewegungen ausführen könnte. Russland sah das als ein Zeichen der Schwäche an. Und als Bereitschaft der USA, einen "Handel" zu Ungunsten der Ukraine einzugehen: Hauptsache Russland hält sich aus dem amerikanischen Kampf mit China raus, der wichtigsten US-Herausforderung in diesem Jahrhundert. Richtig wütend dagegen war Putin darüber, dass in der Ukraine sein engster ukrainischer Freund und Verbündeter Wiktor Medwedtschuk wegen Verrats angeklagt und inhaftiert wurde. Ihm wurde klar, dass kein ukrainischer Staatschef jemals die 2015 gesetzten Minsk-Kriterien erfüllen wird. Die Ukraine hat bis heute das Gefühl, das Minsker Abkommen mit der Pistole an der Brust unterschrieben haben zu müssen - eine einzige große Demütigung.

Russland jedenfalls ist überzeugt, dass jetzt der richtige Moment gekommen sei, um unverrückbare Forderungen zu stellen: Deutschlands Regierung wird wieder von den als Russland-freundlich eingeschätzten Sozialdemokraten angeführt, die kein Interesse haben, das Pipeline-Projekt Nordstream 2 zu beenden. Frankreich befindet sich mitten in einem ermüdenden Wahlkampf, in dem einer der Mitbewerber fordert, das Land müsse aus der NATO austreten und Sanktionen gegen Russland aufheben. Und in den USA steht ein Präsident an der Spitze, der an der Schwelle zum neunten Lebensjahrzehnt ist und ein Team zur Verfügung hat, das in sich selbst gespalten ist. Von "China first"-Realisten bis hin zu "Wir müssen an Russland denken"- Internationalisten sind dort viele Fraktionen vertreten. Und die Ukraine steht derzeit geschwächt da: Einerseits, weil das Land politisch nicht zur Ruhe kommt, andererseits, weil es die pandemische Lage nicht in den Griff bekommt.

Putin weiß, was er tut

Und noch eine Überlegung: Als Oberbefehlshaber kann es sich Putin nicht leisten, die russischen Truppen zweimal im Jahr für teuer Geld massiv hin- und her zu verschieben, nur um Telefonate mit dem US-Präsidenten zu ermöglichen. Das würde ein Bild der Schwäche erzeugen - und nichts fürchtet Putin mehr. Russland ist keine Demokratie. Für Putin ist es hauptsächlich wichtig, einige wichtige elitäre Kreise bei Laune zu halten, darunter die Top-Vertreter des Militärs. So hält er das Regime stabil. 

Putin weiß genau, was er tut. Er strebt einen Kampf mit der Ukraine an. Für ihn ist das sowohl eine strategische Notwendigkeit, als auch eine Verpflichtung, die sich aus dem historischen Erbe ergibt. Deshalb, liebe Leser: Vergessen Sie die Gipfel zwischen Chruschtschow und Kennedy, zwischen Breschnew und Nixon. Putins Russland ist noch viel mehr zum Äußersten entschlossen als alle damaligen Führer zusammen - und fühlt sich dabei in seinen Entscheidungen noch viel freier, als es die Sowjets jemals waren.

Friedel Taube hat diesen Text aus dem Englischen adaptiert.