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Zwischen Zynismus und Heuchelei

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Barbara Wesel
10. November 2021

Die Lage an der Grenze von Polen und Belarus wird brenzliger, die Töne schriller. Die EU ist hilflos, in Minsk und Warschau kämpfen sie um ihre Propagandasiege. Auf der Strecke bleiben die Menschen, meint Barbara Wesel.

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Belarus Migranten im Grenzgebiet zu Polen
Bild: Leonid Shcheglov/BelTA/AP/dpa/picture alliance

Hier und da soll an der Grenze zwischen Polen und Belarus schon ein Schuss fallen, wie das eben so passiert, wenn junge Grenzsoldaten auf die unbedingte Verteidigung ihres Vaterlandes eingeschworen werden. Aber es ist gefährlich, denn kleinteiliges Zündeln an der Grenze verfeindeter Nachbarn kann schnell ein Feuer entfachen. Wie unter dem Brennglas zeigt dieser Konflikt die Schwächen Europas und den machtpolitischen Zynismus nicht nur in Russland und Belarus, sondern auch in Polen.

Die EU und ihre Schwächen

Seit 2015 die große Fluchtwelle die Bruchlinien in Europa bloßlegte, ist das Thema Flüchtlingspolitik so toxisch wie kein anderes in Brüssel. Der Streit über Asyl, Migration und eine gemeinsame Gesetzgebung wird erbitterter geführt als der Zank ums Geld, um den Klimaschutz oder was sonst noch die Staaten spaltet. Immer wieder sind neue Anläufe für gemeinsame Regeln gescheitert: Wer in die EU einreisen darf, wer einen Asylanspruch hat oder temporären Schutz bekommen sollte, welche Länder wie viele Flüchtlinge aufnehmen und welche sozialen Leistungen erbracht werden müssen – über all dies wird unablässig gestritten.

Wenn die Flüchtlingspolitik auf der Tagesordnung erscheint, gehen die ideologischen Scheuklappen runter und der Nationalismus übernimmt den Diskurs. Da sollte sich niemand hinter "Brüssel" verstecken; es war die Böswilligkeit einiger Mitgliedsländer, die dieses politische Versagen hervorgebracht hat. Und in erster Linie waren es Ungarn und Polen, die jede Gemeinsamkeit und jeden Fortschritt verhindert haben.

Wenn also Warschau jetzt nach europäischer Hilfe ruft, dann meint die Regierung sowieso nur Geld für einen Mauerbau an der Grenze. Dass es keine gemeinsame Aufnahme und Verteilung der dort festsitzenden Flüchtlinge gibt, hat sich die polnische Regierung selbst zuzuschreiben. Sie hat Solidarität immer verweigert, da kann sie jetzt schwer an die Nachbarschaftlichkeit appellieren.

Der Zynismus in Moskau und Minsk

Wer hatte wohl zuerst die Idee, Flüchtlinge als menschliche Waffen für diese neue Art hybrider Kriegsführung gegen Europa einzusetzen – der Herrscher im Kreml oder der Diktator von Minsk? Die clevere Fiesheit der Idee scheint ja eher auf Wladimir Putin zu weisen, als auf den mitunter tumb-brutal wirkenden Herrscher in Belarus. Auch konnte man Außenminister Sergej Lawrow geradezu grinsen sehen, als er jetzt vorschlug, die EU könne sich ja von den Flüchtlingstransporten an die polnische Grenze freikaufen wie früher gegenüber der Türkei. Der alte Politprofi kennt die Schwächen seiner Gegner.  

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
DW-Europakorrespondentin Barbara Wesel

Lukaschenko aber hat jetzt ein erstklassiges Erpressungsinstrument in der Hand - Vorwürfe der Inhumanität und des Menschenhandels im Mafiastil tropfen eh wirkungslos an ihm ab. Er ist sowieso schon ein Paria Moskaus und hat keinen Ruf zu verlieren. Auch haben ihm die bisherigen Sanktionen aus Brüssel nicht wirklich weh getan. Das könnte sich erst ändern, wenn die EU ernsthafte Exportverbote verhängt. Aber davon hat sie mit Rücksicht auf die Bürger von Belarus und die eigenen Firmen bisher abgesehen.

Die Heuchelei in Warschau

Polen erweckt unterdessen den Eindruck, die Sicherheit des Landes sei akut gefährdet. Der Präsident hat sogar schon mit der NATO gesprochen, so als würde sein Land von den mongolischen Reiterheeren des Dschingis Khan bedroht. Das enorme Getöse in Warschau aber ist vor allem Propaganda. Bislang sind einige Tausend Flüchtlinge den Rattenfängermethoden der Regierung in Belarus gefolgt. Und diese frierenden Menschen, die nichts mehr besitzen außer dem, was sie am Leibe tragen, sollen nun eine Gefahr darstellen für 38 Millionen Polen? Diese Behauptung ist schlichtweg absurd.

Aber der Grenzstreit kommt der PiS-Regierung in Warschau höchst gelegen. Sie sackte zuletzt in den Umfragen ab, denn viele Polen haben sich von ihr abgewandt - wegen des strikten Abtreibungsverbots, der Europafeindlichkeit und der Demontage des Rechtsstaats. Um diese Stimmung zu kontern, lässt Jaroslaw Kaczynski, PiS- Parteichef und Vize-Premier, einen wahre Welle von Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus entfesseln, die die Opposition in eine schwierige Lage bringt. Ganz im Sinne der alten Regel, wonach man eine gute Krise nie ungenutzt lassen soll. 

Verlierer sind die Menschen

Die Verlierer in diesem zynischen Spiel sind die Menschen, die in Kälte und Dunkelheit in den Wäldern und Sümpfen an der polnisch-belarussischen Grenze sitzen und weder vor noch zurück können. Die Regierung in Warschau erlaubt nicht einmal Hilfsorganisationen den Zugang, um sie zu versorgen. Das verstößt gegen internationale Konventionen - aber auch die PiS-Partei glaubt wohl, sie habe keinerlei Ruf mehr zu verlieren.

Die EU wiederum sollte aufhören mit den blinden Solidaritätsbekundungen gegenüber Polen und die Regierung unter Druck setzen, umgehend an einer humanen Lösung für die Menschen an der Grenze mitzuarbeiten, vielleicht mit Hilfe internationaler Organisationen. Der Rest ist dann Verhandlungssache – mit den Herkunfts- und Transitländern der Flüchtlinge, mit Russland und Belarus. Eile ist geboten, denn der Winter naht - und mit ihm die Gefahr, dass es dort sehr bald weitere Tote geben wird.